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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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Häusern. In einer Stunde – in sechzig Minuten! – wird er mich holen lassen. Man bringt mich dann an Bord der Ganga. Weißt Du noch? Das ist der schöne Klipper, den wir damals von weitem bewundert haben. Wie sehr wünsche ich mir, Du könntest das alles sehen, liebe Oli! Auf diesem majestätischen Schiff werden wir die sieben Meere erforschen, das hat Jai mir versprochen. Ich kann es kaum erwarten! Endlich, endlich wird die große, weite Welt mit all ihren Geheimnissen mir gehören – nein, uns!
    Du wirst es nicht glauben, aber der Schmerz um meine geliebten Eltern ist unsagbar groß. Es ist die einzige Wolke an dem sonst strahlenden Himmel. Ich weiß, daß Du in Deiner großen Klugheit, dem Mitgefühl und der Liebe, die Du für mich empfindest, sie trösten und auch mein Vergehen mildern wirst, indem Du sie bittest, mir zu verzeihen. Ich weiß, Du wirst ihnen eine sehr viel bessere Tochter sein, als ich es je gewesen bin. Sie werden Dich brauchen – und Du wirst ihnen helfen, so wie Du immer Deinem Vater geholfen hast. Aber auch wenn Du böse auf mich bist, liebe Oli, versprich mir, daß Du nie, nie aufhörst, Deine unverbesserliche Cousine zu lieben, denn meine Liebe für Dich ist groß und unveränderlich. Ich habe Jai so viel von Dir erzählt – so viel! Wenn Gott will, wirst Du ihn eines Tages so kennenlernen wie ich, und Du wirst ihn lieben wie ich.
    Jetzt muß ich mich beeilen. Jais Kutscher wartet auf mich. Die Ganga darf die Flut nicht versäumen, sonst wird Jai wütend. Alles Gute für Dich, liebe Oli, und auf Wiedersehen, nicht Adieu. Ich bin Dir dankbar für alles, was Du mir gegeben und was ich von Dir gelernt habe, und ich stehe in Deiner Schuld. Ich werde versuchen, ein so guter Mensch zu werden wie Du, denn Dein Vorbild ist für mich wie ein Leuchtturm, der mich zu meinem Schicksal führt, von dem ich mich nicht abbringen lassen werde. Du wirst mich Deiner Liebe würdig finden – wenn auch nicht jetzt, während Du das liest, so doch vielleicht eines Tages, und deshalb bin und bleibe ich im Augenblick Deine unwürdige, egoistische Cousine Estelle.«
    Es folgte ein Postskriptum: »Hast Du wirklich geglaubt, ich sei in Clive Smithers verliebt? Gott bewahre!«
    Und noch eins: »Wenn ihr mein Zimmer ausräumt – wie Mama es sicher auf der Stelle tun wird –, dann gib bitte Charlotte die silbernen Sandalen zurück und Polly die Noten. Sie liegen in meinem Sekretär. Ich werde Papa die häßlichen Dinge nie verzeihen, die er mir an den Kopf geworfen hat, und Mama nicht ihre Bevormundung. Aber obwohl sie mich so wenig lieben, habe ich alles so geheimgehalten, daß Du – besonders Du! – stolz auf Deine schwatzhafte Cousine sein kannst! Ich habe niemanden – nicht einmal Charlotte! – in meine Pläne eingeweiht. Mama kann also zufrieden sein, denn sie hat vielleicht eine Tochter verloren, aber nicht ihren Ruf. Wenn es einen Skandal gibt, dann habe ich wenigstens nichts damit zu tun. E.«
    Olivia blieb mit dem Brief in der Hand regungslos sitzen. In ihr war alles zum Stillstand gekommen. Sie befand sich im Innern eines Orkans. Die Welt um sie herum war noch in Aufruhr, aber hier herrschte nur eine gespenstische Ruhe. Dann stand sie auf, legte sich auf das Bett und schloß die Augen. Aus der Dunkelheit hinter den Lidern tauchten nacheinander die Bilder auf, die sie so lange in ihrer erstarrten Seele eingeschlossen hatte, und zogen höhnisch vorüber. Fratzen tauchten aus verborgenen Winkeln auf und verspotteten sie hemmungslos. Der Orkan tobte. Das Zentrum des Orkans, in dem sie für kurze Zeit Ruhe gefunden hatte, verlagerte sich. Plötzlich traf sie die ganze Wucht der entfesselten Gewalten.
    Olivia krümmte sich vor Schmerz.
    Der Sturm tobte die ganze Nacht. Spitze Messer bohrten sich in ihr Fleisch, zerfetzten und zerstückelten sie. Mit Säure getränkte Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf und verbreiteten ihr Gift so gründlich, daß nichts davon unberührt blieb. Die Höllenqual steigerte sich ins Unerträgliche, und um ihre Gefühle nicht hinauszuschreien, stopfte sie sich das Kissen in den Mund. Aber sie wußte, der Schmerz würde erst nachlassen, wenn sie aufhörte zu atmen. Sie wurde von Krämpfen geschüttelt. Je mehr von den Qualen aus ihr herausfloß und ausgelöscht wurde, desto mehr wurde in ihr neu erschaffen. Wie ein Wasserfall nahm der tosende Strom der Foltern kein Ende.
    Sie wollte sterben.
    Aber der Tod ist kein freundlicher Wohltäter, den man ohne weiteres

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