Wer Liebe verspricht
in dieser Nacht zum ersten Mal Estelles Brief. Sie tat es weder aus Neugier noch aus Mitgefühl für die durchgebrannte Cousine, sondern aus rein egoistischen Gründen. Der Damm der endlosen Qual, der sie gegen die Wüste abschottete, zu der ihr Inneres geworden war, hatte Risse bekommen. Die Risse mußten vergrößert werden, der Damm mußte brechen. Sie mußte sich ihrem gerechten Zorn überlassen. Sie brauchte etwas, um ins Leben zurückzufinden. In diesen gefühllosen Leichnam mußten Empfindungen gepumpt werden.
Sie mußte weinen.
Olivia las:
»Geliebte Mama, geliebter Papa,
wenn Ihr diesen Brief erhaltet, bin ich auf der Ganga und fahre mit Jai Raventhorne durch die Bucht von Bengalen nach Amerika …«
Olivia überflog die nächsten beiden Absätze, in denen Estelle wortreich behauptete, sie habe große Gewissensbisse, weil sie ihren Eltern so viel Kummer bereite, und sie habe Verständnis für ihr Leid. Estelle beteuerte ihnen, sie teile ihren Schmerz, wenn sie sich nicht gerade auf den Wogen ihres neuen Glücks davontragen lasse. Estelle erklärte, es sei ihr unmöglich, die leidenschaftlichen Forderungen ihres Herzens beiseite zu schieben, auch wenn die Vernunft es gebiete. Als Gründe für diesen ›unwiderruflichen Schritt‹, wie sie es nannte, führte sie die Demütigungen an, die sie als ›ein Vogel im goldenen Käfig‹ hatte ertragen müssen, ohne die Freiheiten, die ihr als einer erwachsenen Frau zustanden. Außerdem folge sie der überwältigenden Liebe für einen Mann, den sie haßten und mit himmelschreiender Ungerechtigkeit verteufelten.
Dann verteidigte sie mit glühenden Worten Jai Raventhorne, den Sündenbock der Gesellschaft. Sie warf ihren Eltern vor, sie hätten seine Qualitäten, seinen natürlichen Anstand und seine Liebenswürdigkeit, seine Charakterstärke und Geduld nie gewürdigt, ja nicht einmal wahrhaben wollen. Sie habe bei ihm nur Ritterlichkeit erlebt und natürlich eine so selbstlose Liebe, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. »Ich schäme mich meiner Liebe für Jai nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz, jawohl stolz darauf! Ich habe ihm mein Leben überantwortet, weil mein Vertrauen in ihn unerschütterlich ist. Zum ersten Mal in meinen achtzehn Jahren bin ich richtig, richtig glücklich.«
Der Brief schloß mit der Bitte um Vergebung und mit der beschwörenden Aufforderung, sie sollten ihr Glück teilen, wenn sie ihre Tochter wirklich liebten. Estelle schloß mit der Beteuerung, sie werde immer ihre sie liebende, wenn auch ungehorsame Tochter bleiben.
In dem großen braunen Couvert entdeckte Olivia einen bisher unbemerkt gebliebenen kleinen weißen Briefumschlag. Er war verschlossen und an sie adressiert. Im ersten Augenblick, während sie gegen ihren Zorn ankämpfte, wollte sie ihn ungelesen verbrennen, aber dann überlegte Olivia es sich anders. Das Messer in der Wunde war noch nicht ganz gedreht. Sie mußte den Schmerz in seinem vollen Ausmaß ertragen. Olivia riß den Umschlag auf und las:
»Meine liebe, liebe Oli, meine einzige Freundin,
es gibt keine Worte, mit denen ich Dir meine Dankbarkeit auszudrücken vermag. Du hast mir den Weg zu dieser wunderbaren, einfach wunderbaren Erfüllung gezeigt – den Weg zu der Liebe meines Lebens, meiner einzigen Liebe. Du hast mein Interesse für diesen Mann geweckt, den Du einmal zufällig getroffen hast. Und Du hast mich gelehrt, ihn in einem anderen Licht zu sehen als die übrigen. Unbewußt hast Du mir gesagt, daß man ihm statt Verachtung und Haß Mitgefühl entgegenbringen muß, etwas, das ihm alle verwehren. Wir durften im Haus meiner Eltern nicht einmal seinen Namen aussprechen! Und jetzt klingt sein Name bei jedem Schlag meines Herzens in mir und erfüllt mich mit einer Freude, von der ich nie hoffen kann, sie in Worte zu fassen.
Ich wollte Dir unbedingt alles erzählen, liebste Oli. Ich fand, daß Du der einzige Mensch auf der Welt bist, der wirklich versteht, was ich empfinde. Leider wurdest Du krank, und ich konnte nicht mit Dir sprechen. Vielleicht ist es auch ganz gut so. Ich kenne Deine hohen Ideale, Dein Pflichtgefühl, Deine Aufrichtigkeit, mit der Du alles tust, und angesichts dessen bin ich sicher, daß Du versucht hättest, mich von meinem Entschluß abzubringen. Wäre es Dir gelungen? Wer kann das jetzt sagen? Ich zweifle nicht an meiner Liebe zu Jai, aber Deine Logik ist immer so unglaublich überzeugend gewesen.
Ich sitze hier in Chitpur, in einem von Jais malerischen und reizenden
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