Wer Liebe verspricht
gerechtfertigt, Olivia. O Gott, wie gerechtfertigt!«
»Estelle, bitte …«
Estelle hatte nun endlich den Schlüssel zu den Geheimnissen gefunden und ließ sich nicht mehr aufhalten. » Ich war die unselige, schreckliche Waffe, mit der Jai dein Leben zerstört hat – und ich habe es nicht geahnt!«
»Die Zeit für Reue und Vorwürfe ist vorüber, Estelle!«
Olivia konnte die Vorstellung von Grabreden nicht ertragen und unterbrach sie heftig. »Erklärungen sind jetzt sinnlos. Begreifst du nicht, daß es zu spät dafür ist?«
»Für dich vielleicht«, rief Estelle ebenso energisch, »aber nicht für mich. Verstehst du denn nicht, daß ich dich jetzt mehr denn je davon überzeugen muß, daß Jai nie mein Geliebter war?«
Noch mehr Täuschungen? Allmächtiger Gott, nur das nicht!
Olivias Blick wurde eisig.
»Es ist wahr, Olivia, ich schwöre es!«
Estelle ließ den Kopf sinken und wurde dunkelrot. »Ich gebe dir mein Wort, daß Jai mich nie, nicht ein einziges Mal auch nur angerührt hat. Wie könnte er, schließlich ist er doch …?« Sie mußte schlucken und drehte den Kopf zur Seite.
»Nein?« Olivia lachte mit einem Anflug von bitterem Humor. »Meine liebe, liebe Estelle, du hast mir einen Brief geschrieben. Erinnerst du dich nicht daran?«
Denkt die dumme Gans, ich werde diesen frechen Lügen glauben?
»Ja, ich weiß.« Estelle fand mit Mühe ihre Fassung wieder. »Ich leugne nicht, daß ich in Jai verliebt war. Die … Flucht war seine Idee, aber ich habe begeistert und eifrig zugestimmt. Auch das ist wahr. Ich habe wirklich geglaubt, er würde meine Gefühle erwidern, obwohl er das nie, kein einziges Mal, auch nicht in Worten getan hat. O gewiß, er hat mir viele Märchen erzählt, mich mit Versprechungen überhäuft, mich blind gemacht mit phantastischen Geschichten über London, New York und die große weite Welt, nach der ich mich sehnte.« Sie brach ab und sah Olivia trotzig an. »Du mußt besser als jeder andere wissen, wie unwiderstehlich er sein kann!«
Olivia wollte zornig etwas erwidern, aber ihre Würde verbot es ihr.
»Ich war verrückt nach Jai«, fuhr Estelle fort, »ich bin ihm wie eine hirnlose Puppe auf die Ganga gefolgt und träumte von ewigen Freuden. Aber nachdem ich erst einmal auf der Ganga war, änderte sich alles. Jai änderte sich …« Ihre Stimme klang gepreßt, und ihr Gesicht wurde ausdruckslos. »Am ersten Abend lag ich berauscht von meinen albernen Träumen in meinem neuen Georgette-Negligé im Himmelbett und wartete auf ihn …«
»Hör auf!« Olivia sprang empört auf. Sie konnte es nicht länger ertragen. »Ich will nichts hören! Vor ein paar Tagen war es für dich ein Abenteuer gewesen, ein unbedeutendes Abenteuer, um deinen Eltern eine Lektion zu erteilen …«
»Ob du willst oder nicht, meine liebe Cousine, du wirst es dir anhören! Du wirst dir jedes Wort anhören, das ich dir zu sagen habe.« Estelle lief zur Tür, schlug sie zu, drehte den Schlüssel im Schloß um und steckte ihn in ihr Mieder. »Setz dich, Olivia. Du hast dich die ganze Zeit geweigert, mir zuzuhören. Und selbst wenn ich dich an diesen Stuhl fesseln muß, du wirst es mir jetzt nicht verwehren, du kannst es mir jetzt nicht verwehren!«
Angesichts der funkelnden Augen ihrer Cousine, der glühenden Wangen, schwand Olivias Zorn. »Du kannst mich nicht zwingen, dir zuzuhören …«, erwiderte sie schwach, aber Estelle achtete nicht auf ihren Einwurf und fuhr unbeirrt fort.
»Als Jai schließlich in die Kabine kam, sah ich plötzlich einen Menschen, den ich kaum wiedererkannte. Er sah wie ein Wahnsinniger aus und war von einer solchen Unruhe erfaßt, daß er nicht stillstehen konnte. Er riß einen Vorhang von einem Bullauge und befahl mir, mich damit zu bedecken. Und wenn ich nicht gehorchte, so drohte er, werde er mir den Hintern versohlen.« Olivia verbiß sich eine sarkastische Bemerkung. Sie fand, es sei zumindest interessant zu sehen, wie weit sich Estelle in ihren haarsträubenden Lügen verstieg. »Dann setzte er sich und erklärte mir, als Frau beleidigte ich den Mann in ihm. Er sagte sogar«, Estelles Lippen zitterten, »er verachte mich, weil ich ein ungezogenes, egoistisches und verwöhntes kleines Mädchen sei, das ihn mit seiner Schamlosigkeit anwidere. Seine Absichten waren einfach: Er würde mich nach England bringen und mich dann entweder bei meiner Tante oder John Sturges abliefern. Er sah mich kalt an und fügte grausam hinzu: ›Wir werden sehen, wer von beiden
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