Wer Liebe verspricht
deine ganze Familie zu vernichten, ließe sich plötzlich in der Öffentlichkeit einen Olivenzweig überreichen? Estelle, du mußt wirklich verrückt gewesen sein, wenn du das geglaubt hast!«
»Er kennt nicht nur Haß!« rief Estelle. »Du weißt noch nicht alles, Olivia.«
»Das möchte ich auch nicht, liebe Estelle! Alle deine vielen Gründe dafür, weshalb etwas geschah oder nicht geschah, haben nichts mehr mit meinem Leben zu tun. Hätte dein Vater besser gezielt, wäre meine Reaktion nicht anders gewesen.«
Estelle zuckte bei diesen Worten zusammen. »Ich verstehe deinen Haß auf Jai, Olivia. Aber er ist mein Halbbruder«, erwiderte sie fest, »ich habe gelernt, vieles an ihm zu lieben. Im Augenblick ist er wütend auf mich, aber das geht vorbei. Er wird mir verzeihen, denn er weiß, ich habe es gut gemeint – und er betrachtet mich wirklich auch als seine Schwester. Wir waren viele Monate zusammen …« Sie brach ab, biß sich auf die Lippen und schwieg.
»Ich freue mich für dich, daß du einen Bruder gefunden hast, Estelle. Ich wünsche dir viel Glück in dieser Beziehung.« Olivia schloß auf und hielt Estelle die Tür zum Zeichen, daß das Gespräch beendet war. »Ich nehme an, ihr brecht morgen nach Cawnpore auf. Ich hoffe, ihr habt eine gute Reise, und es gefällt dir dort. Ich wünsche dir und John und Onkel Josh alles Gute.«
Estelles Lippen verzogen sich verächtlich. »Jetzt begreife ich, weshalb du dir so große Mühe gegeben hast, Amos vor mir zu verbergen. Du fürchtest, Jai wird erfahren, daß er einen Sohn hat, und ihn dir wegnehmen. Und natürlich glaubst du, ich werde es ihm sagen!«
Diese Frage quälte Olivia, seit sie ihre Cousine im Kinderzimmer angetroffen hatte. Sie kämpfte gegen den Drang an, sie zu stellen. Aber ihre Angst wuchs, und sie tat es doch: »Wirst du es ihm sagen?«
Estelle sah sie traurig an. »Dein Mißtrauen ist gerechtfertigt, ich weiß. Ich habe dazu beigetragen, dein Leben zu ruinieren – aber es geschah unwissentlich. Es ist eine Anmaßung, um deine Vergebung zu bitten. Ich akzeptiere, daß du mir nie verzeihen kannst. Aber wieviel dir mein Versprechen auch wert sein mag, ich verspreche dir, von mir wird Jai nicht erfahren, daß er einen Sohn hat.« Sie lächelte wehmütig. »Du kannst es mir glauben oder nicht, du bist für mich immer noch ein Vorbild, das ich zutiefst bewundere. Ich könnte dir nie wissentlich schaden. Also fahre in Frieden zu deinem Vater, Olivia. Ich werde dein Geheimnis wahren.«
Sie schwieg und hoffte auf ein Zeichen der Freundschaft, ein letztes freundliches Wort zum endgültigen Abschied. Nichts geschah. Mit versteinertem Gesicht und ohne ein Zeichen der Vergebung erwiderte Olivia ihren flehenden Blick mit unerbittlichem Schweigen.
»Also dann lebe wohl, meine herzlose Oli«, versuchte Estelle zu scherzen. »Ich wünsche dir eine gute Reise nach Hause und viel Glück in Hawaii.« Sie küßten sich höflich die Wange. Estelle warf noch einen liebevollen Blick auf das schlafende Kind und lachte plötzlich. »Welch eine Ironie! Jai und sein Sohn werden nie etwas voneinander erfahren, und sie werden beide ohne ihren Vater leben müssen …« Damit verabschiedete sie sich.
Die Ironie erschöpfte sich damit noch nicht. Als Estelle ihren Gedanken aussprach, wußte sie nicht, daß dieser Verlust nicht nur Jai Raventhorne und seinen Sohn traf.
*
Drei Tage nach Estelles Abreise überbrachte ein Bote Olivia eine Nachricht von John Sturges: Sir Joshua Templewood war tot. In der ersten Nacht unterwegs hatten sie sein Lager auf dem Gelände eines dak -Bungalow in der Nähe von Burdwan aufgeschlagen. Sir Joshua war in den dichten Wald gelaufen und hatte sich dort, allein mit der Natur und ihren Bewohnern, den Lauf seines Revolvers in den Mund gesteckt, nach oben gerichtet und sich durch den Kopf geschossen. Er lag dabei auf einem grasbewachsenen kleinen Hügel und hatte sich wohlüberlegt ein Kissen unter den Kopf geschoben. Infolgedessen waren das Blut und das zerfetzte Gehirn vom Kissen aufgesaugt worden. Wie alle wußten, war Sir Joshua in persönlichen Dingen ein äußerst ordentlicher und auf peinlichste Sauberkeit bedachter Mann. Ein Chowkidar, der die schlafenden Reisenden bewachte, hörte den Schuß. Er fürchtete einen Überfall von Banditen und hatte sofort Alarm geschlagen. Erst als die Männer hastig nach den Waffen griffen und sich auf einen möglichen Angriff vorbereiteten, bemerkte man Sir Joshuas Abwesenheit. Ein Suchtrupp
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