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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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bereits aufgeregt, aber er machte eine noch beunruhigendere Entdeckung. Er war kein Feigling. In den vergangenen Jahrzehnten als Kaufmann hatte er viele Schlachten geschlagen – einige hatte er verloren, andere gewonnen. Er fürchtete nicht Raventhorne – der Mann war ein Teufel, das wußte jeder –, sondern diese seltsame, geheimnisvolle Frau, die zu verstehen ihm einfach nicht gelungen war. Er stellte keine Fragen, aber er hätte die Antworten nur allzugern gekannt.
    »Wo warst du gestern abend?« Mochte Willie Donaldson Unwissenheit vielleicht als Segen betrachten, Estelle gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. Sie stellte Olivia die Frage beim Mittagessen ganz unverblümt.
    »Ich hatte etwas zu erledigen.«
    »Wo? Bei wem?«
    »Eine geschäftliche Angelegenheit. Es hat nichts mit dir zu tun.«
    Estelle schob den Teller weg. Der Appetit war ihr vergangen. »Bist du wirklich entschlossen, die Hütten von Lubbocks Leuten abreißen zu lassen?«
    »Natürlich!«
    »Tu es nicht, Olivia. Er wird nur noch tollwütiger reagieren.« Kläglich machte sie einen letzten Versuch. »Laß mich zu ihm gehen, Olivia! Bitte, laß mich mit Jai sprechen! Er wird mich wenigstens anhören. Ich werde ihn dazu zwingen. Er wird es nicht ablehnen, mich zu sehen.«
    »Gut, wenn du willst, geh! Ich wollte dich ohnehin um genau das bitten.«
    Estelle blieb vor Staunen der Mund offen. »Du?« Sie schluckte heftig. »Warum?«
    »Ich möchte, daß du ihm einen Brief von mir überbringst.« Und in scharfem Ton fügte Olivia hinzu: »Du sollst ihm den Brief nur übergeben – mehr nicht, Estelle. Ich warne dich: Bitte, sonst kein Wort!«
    Estelle sah sie mißtrauisch an. Sie traute Olivia inzwischen jede Bosheit zu. »Was wirst du ihm schreiben?«
    »Ich weiß es noch nicht. Das kann ich erst heute abend sagen.«
    Da Olivias Gesicht undurchdringlich blieb, gab Estelle den Versuch auf, weiter in sie zu dringen. »Nun ja, ich habe Kinjal eine Woche lang nicht gesehen«, erklärte sie kühl, »sie wird beleidigt sein. Was hältst du davon, wenn wir sie beide heute nachmittag besuchen? Ich möchte sie besser kennenlernen.«
    Es war eine gute Frage, denn auch Olivia hatte Kinjal eine Woche lang nicht besucht. Aber die Maharani jetzt zu sehen, war unmöglich! Olivia konnte jeden belügen, nicht aber Kinjal. Und genausowenig konnte sie ihr die Wahrheit sagen! »Nein«, erwiderte Olivia so ungezwungen wie möglich, »ich habe andere Dinge zu erledigen. Bitte entschuldige mich bei Kinjal und versichere ihr, ich werde sie bald besuchen.«
    Die Gewissensbisse quälten sie nicht lange, denn die wachsende Spannung in ihrer Brust drängte alles andere in den Hintergrund. Ja, heute abend würde das Schicksal endgültig über diesen Krieg entscheiden, den Donaldson nicht verstand. Wenn Sujata versagte, dann war auch Olivias Niederlage besiegelt. Sujata war die letzte Trumpfkarte, die sie ziehen konnte – ihre letzte Chance. Jai Raventhornes ehemalige Geliebte mußte bei ihrer Mission unter allen Umständen Erfolg haben! Irgendwo in dem Haus in Chiptur befand sich unverschlossen Jai Raventhornes kostbarer Besitz – das einzig Kostbare, das er besaß: das in rotem Samt eingeschlagene Bündel. Estelle hatte es auf der Ganga gefunden. Das bedeutete, Raventhorne trennte sich nie davon, denn in dem Bündel lagen alle Erinnerungen einer Kindheit, die keine gewesen war. Die Erinnerungen an eine Mutter, die so unwirklich war, daß man glauben konnte, es habe sie nie gegeben. Wenn Olivia dieses Bündel besaß, dann – und daran zweifelte sie keinen Augenblick –, besaß sie Jai Raventhornes Seele. Ja, es war ein fairer Tausch: die Fragmente einer zerstörten Kindheit gegen die Fragmente eines zerstörten Lebens.
    Olivia ließ Lubbock eine Nachricht überbringen. Sie bat ihn darin, mit dem Abbruch am übernächsten Tag zu beginnen.
    *
Der Mond nimmt ab und wieder zu
Der abgebrochene Ast wächst wieder nach
Denke daran, du Tor, sei unbesorgt
Alles reift zu seiner Zeit.
    Das Lied der Bauls, einer Sippe fahrender bengalischer Sänger, klang schlicht und war getragen von süßer Wehmut. Olivia verstand die Worte in dem fremden Dialekt nicht, aber ein freundlicher Inder übersetzte sie ihr ins Hindustani. Olivia drückte den Sängern in safrangelben Gewändern ein paar Münzen in die Hand und befahl dem Kutscher weiterzufahren. Der perlgraue Dunst eines Monsunmittags lag drückend in der Luft. Es hatte leicht geregnet, zurück blieb eine zärtlich

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