Wer Liebe verspricht
nicht im Kinderzimmer. Ich komme von dort.«
»Mit uns zurückgekommen?« Olivia sah sie verständnislos an.
»Ja. Er ist weg, seit Sie ihn und die Aja mit der Kutsche haben holen lassen. Ich dachte, er muß …«
»Ich habe ihn mit der Kutsche holen lassen ?« wiederholte Olivia, »mit welcher Kutsche?«
»Aber natürlich mit der Kutsche der Maharani! Ich habe ihn persönlich vor weniger als einer Stunde in die Kutsche gesetzt, Madam.«
Sie sah Olivia verwundert an.
»Warum um alles in der Welt sollte ich Amos mit der Kutsche der Maharani holen lassen, Mary? Sie müssen sich irren! Amos muß oben im Kinderzimmer sein …« Olivia wurde plötzlich unsicher.
»Er … muß dort sein!« Sie sprang auf, ließ die Handtasche fallen und lief, so schnell es ihr Zustand erlaubte, die Treppe hinauf. Der Streit war vergessen. Estelle eilte ihr nach, und ihnen folgte Mary mit blassem Gesicht.
Das Kinderzimmer war leer. Von Amos war nichts zu sehen.
Keuchend vom Treppensteigen, klammerte sich Olivia an den Türrahmen. Ihr Atem ging rasselnd. » Ich habe Amos nicht mit der Kutsche holen lassen, Mary«, stieß sie immer wieder atemlos hervor. Ihre Worte wurden zu einem Flüstern, und dann fragte sie unhörbar:
»Warum sollte ich? Warum sollte ich? Warum …?«
»Ich … weiß nicht, Madam«, stammelte Mary unglücklich. »Sie kamen gegen neun Uhr … Ich hatte gerade …«
»Sie? Wer?« Ein eiskalter Schauer lief Olivia den Rücken hinunter.
»Wer, Mary, wer ?«
Die völlig verwirrte Mary begann, vor Angst zu zittern. »Der … der Kutscher der Maharani und der andere Mann. Die Nachricht war klar und deutlich, Madam.«
Olivia spürte plötzlich eine tödliche Ruhe. »Zeigen Sie mir die Nachricht.«
Mary eilte zum Papierkorb und suchte darin herum. Estelle sah stumm und wie betäubt zu. Nur ihre Finger zuckten und falteten sich immer wieder krampfhaft. Mary fand die Nachricht.
Ich schicke die Kutsche Ihrer Hoheit, um Amos mit der Aja abzuholen.
Die Initialen am Ende waren deutlich zu lesen: »O.B.« Die Nachricht stand auf Kinjals Briefpapier mit dem unverkennbaren, goldgeprägten Wappen.
Olivia redete sich mit ihrer ganzen Willenskraft ein:
Nur keine Panik. Jetzt nur keine Panik!
Es mußte ein Mißverständnis sein. Amos war bestimmt bei Kinjal. Amos war mit unvernünftigen Dienstboten im Park. Amos war unten im Kuhstall und sah beim Melken zu. Es gab keine andere Erklärung!
Aber dann stöhnte Mary erschrocken auf, suchte etwas in ihrer Schürzentasche und murmelte unter Tränen: »Sie haben mir auch einen Brief für M-madam gegeben. Ich habe … habe es ganz vergessen …«
Olivia riß ihr den Brief aus der Hand. Die Handschrift, in der die Adresse geschrieben war, kannte sie. Die Nachricht, die in dem Umschlag lag, war noch unmißverständlicher:
Du wirst Deinen Sohn nie wiedersehen. Das ist meine Antwort!
Keine Unterschrift.
Olivia sank in Estelles Arme und begann zu schreien.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Die Geburt ihres zweiten Sohnes kostete Olivia beinahe das Leben.
Das Kind hatte eine gefährliche Lage; es kam sechs Wochen zu früh, und ihr Körper hatte nur noch wenige Kraftreserven. Die Welt verschwand aus ihrem Bewußtsein, das Licht erlosch, und sie spürte wenig von Dr.Humphries’ erbittertem Kampf um ihr Überleben. Sie besaß, noch ehe die Schlacht begonnen hatte, keinen Willen mehr zu kämpfen. Die gefühllose, graue Masse ihres Gehirns registrierte nur unbestimmt und verschwommen Eindrücke. Seltsame, ungestalte Wesen erschienen hin und wieder im Halbdämmer ihres Bewußtseins und versuchten, dort einen Halt zu finden, aber den gab es nicht in dieser Hölle des Nichts. Manchmal zerrissen die schwarzen Schleier, die sie umhüllten, und Olivia empfand Schmerzen, schreckliche Schmerzen. Aber diese Schmerzen schien eine andere Frau zu haben – nicht sie. Und eine andere Frau flüsterte auch in den entsetzlichen Augenblicken am Ende ihrer Qual: »Nimm es weg, ehe es schreit …«
Völlig ermattet, über den Punkt hinaus, an dem sie noch etwas wahrnehmen oder länger durchhalten konnte, versank Olivia in eine tiefe, tiefe Bewußtlosigkeit. So erfuhr sie noch nicht sofort, daß sie die moralische Schuld ihrem Mann und seiner Familie gegenüber schließlich doch bezahlt hatte.
Olivia wußte in den zwei Tagen und zwei Nächten, in denen andere um ihr Leben kämpften, auch nicht, daß Arvind Singh die Jagd auf Jai Raventhorne eröffnet hatte. Mit der ganzen Macht seines Staates
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