Wer Liebe verspricht
kühlende Brise, aber auch die schwüle Feuchtigkeit. Das langsame Klappern der Pferdehufe ließ die Zeit in rhythmischen Schlägen vergehen und machte sie irgendwie bedrohlich. Olivia überkam Ruhe, eine seltsame Ruhe; sie fühlte sich kraftlos und wie betäubt. Nur der schmerzhafte Krampf im Magen und die heftigen Tritte des Babys versetzten die ansonsten glatte Oberfläche ihrer Gedanken in Bewegung.
Bitte, Gott, laß das Kind noch nicht kommen – noch nicht …
Zum hundertsten Mal vertrieb sie diesen Gedanken mit bewußten Überlegungen.
Das rote Samtbündel war ihr kurz nach Mitternacht übergeben worden. Getrieben von den eigenen Dämonen – so wie sie alle getrieben wurden! – hatte Sujata sie nicht enttäuscht. Sie hatte ihre Aufgabe sehr geschickt erfüllt. Als Hinweis darauf, wer das Bündel jetzt besaß, hinterließ Sujata an derselben Stelle den silbernen Anhänger und die Kette, die Olivia ihr zu diesem Zweck gegeben hatte. Nachdem Olivia das Bündel in der Hand hatte, verbrachte sie den Rest der Nacht damit, ihren Brief an Jai Raventhorne zu schreiben. Um sieben Uhr morgens hatte sich Estelle damit auf den Weg zur Tapti gemacht. Das Schreiben hatte zwar Stunden in Anspruch genommen, doch der Brief war sehr kurz.
»Wenn Du in Deinem Schlafzimmer die zweite rechte Schublade Deiner Kommode öffnest, wirst Du sehen, daß ich nicht der ungleiche Gegner bin, für den Du mich hältst. Das Spiel und seine Regeln hast Du bestimmt, aber ich lerne noch immer schnell. Ich warte auf Deine Antwort.« Sie unterschrieb den Brief nicht. Es war nicht nötig.
Gegen acht mußte Estelle ihrem Bruder den Brief übergeben, und er mußte ihn mit einem Blick gelesen haben. Jetzt war es beinahe zehn. Olivia hatte die Unruhe aus dem Haus getrieben, die mit dem Warten auf Estelle von Minute zu Minute wuchs. Sie ließ sich in der Kutsche ziellos durch die Gegend fahren und versuchte, nur an unwichtige und oberflächliche Dinge zu denken. Aber jetzt erfaßte sie wieder heftige Ungeduld, und sie befahl dem Kutscher, zum Palais zurückzukehren. Als Olivia vorfuhr, war Estelle bereits da.
»Hast du ihm den Brief gegeben?«
»Ja.«
»Persönlich?«
»Ja.«
»Und …?« Vor Erregung klang Olivias Stimme schrill.
Estelle beantwortete die Frage nicht. Statt dessen sah sie ihre Cousine böse an. »Was stand in dem Brief, Olivia?«
»Etwas Persönliches. Sag mir, was …?«
»Persönlich oder nicht, ich möchte wissen, was in diesem Brief stand!« Estelle ballte die Fäuste. Trotz ihres Zorns zwang sie sich, ruhig zu bleiben.
Olivia erwiderte nichtssagend: »Ich habe ihm ein Angebot gemacht, eine Möglichkeit, Frieden zu schließen.« Sie wartete nicht auf eine Antwort und fragte heftig: »Was hat er gesagt? Wie war seine Reaktion? Sag es mir, Estelle!«
»Er hat nichts gesagt. Nur sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er wurde totenblaß.«
Olivia atmete langsam aus und holte dann tief Luft. Danach setzte sie sich. »Und was hat er gemacht?«
Estelles schmale Lippen bebten vor Zorn, aber sie nahm sich noch immer zusammen. »Dann hat er den Brief in seine Tasche geschoben und wortlos das Schiff verlassen.« Sie drehte Olivia den Rücken zu und trat ans Fenster. »Aber bevor er von Bord ging, sah er mich an – er sah mich nur an. Ich habe so einen Blick noch nie in meinem Leben gesehen – auch nicht in der ersten Nacht auf der Ganga. In dem Blick lag nicht einmal Haß. Er überstieg Haß bei weitem, und ich bekam es mit der Angst zu tun.« Sie drehte sich um und sah Olivia wie versteinert an. »Sag mir, was in dem verdammten Brief stand! Ich weiß, er muß auch etwas mit mir zu tun haben. Ich habe ein Recht, es zu wissen!«
»Du hast damit nichts zu tun«, erwiderte Olivia knapp. Sie versuchte, das Gespräch zu beenden, und wollte zur Tür.
»Du hast mich noch einmal benutzt, nicht wahr, Olivia?« fragte Estelle zitternd. »Du hast dir die Information zunutze gemacht, die ich …«
Es klopfte an der Tür, und Mary Ling trat ein. Die beiden Frauen beherrschten sich nur mühsam, und Estelle wich ans andere Ende des Zimmers aus. Olivia kam die Unterbrechung nicht ungelegen.
»Ja, Mary? Was gibt es?«
»Entschuldigen Sie, Madam«, erwiderte Mary unsicher, »Amos müßte schon seinen Obstsaft getrunken haben. Ich wollte ihn nur holen und nach oben bringen.«
»Er ist doch oben, Mary. Wir sind beide eben erst zurückgekommen.«
Mary zog die Stirn in Falten. »Er ist nicht mit Ihnen zurückgekommen? Amos ist
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