Wer Liebe verspricht
erst dann antreten, wenn Sie es erlauben, das heißt, wenn Sie der Meinung sind, daß das Kind die Reise gesund überstehen wird. Mary, die Amme und ich werden den Kleinen begleiten.« Sie begann zu weinen. »Ich bitte Sie, Dr.Humphries, helfen Sie uns. Wir müssen alles für Olivia tun, alles, denn sonst machen wir Olivias heroische Selbstverleugnung zu einer Frace.«
Trotz seiner Empörung war er gerührt. »Tja … ich kann nicht behaupten, die Situation zu verstehen«, murmelte er unwillig, »aber andererseits ist es mir in vierzig Jahren Beschäftigung mit Anatomie und Physiologie nie gelungen, das Gehirn einer Frau zu verstehen. Ihre Cousine ist eine mutige junge Frau, die Unterstützung verdient. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Aber ich warne Sie«, er wurde wieder ernst, »weder Mutter noch Kind sind über dem Berg. Sie müssen mit größter Hingabe gepflegt werden, und Sie müssen sich peinlichst genau an meine Anweisungen halten.«
Kinjal überwand ihre Scheu und versicherte ihm, das werde geschehen. Sie beantwortete dem Arzt auch alle Fragen, die er stellte. Schließlich schien er zufrieden. Er kündigte an, er werde gegen Abend wiederkommen, und hinterließ eine lange Liste mit Anweisungen und noch mehr Warnungen. Er verschrieb Arzneimittel gegen Olivias großen Blut-, Kräfte- und Gewichtsverlust. Gegen ihren verwundeten Geist konnte er jedoch nichts verschreiben. Aber wer hätte das tun können?
»Sie wollen auch nach England fahren, Estelle?« fragte Kinjal, als der Arzt gegangen war. »Das wußte ich nicht, aber Ihre Entscheidung erleichtert mich.«
Estelle wurde rot. »Ja, ich habe John geschrieben und ihn um Erlaubnis gebeten, diese letzte Pflicht meiner Cousine gegenüber zu erfüllen. Er hat natürlich zugestimmt. Ich werde keine Ruhe finden, Kinjal, bis ich Olivias kleinen Sohn seinem Vater übergeben habe. Es wird mir zumindest helfen, mich weniger zu verachten.« Und nachdenklich fügte sie mit trauriger Stimme hinzu: »Wie klein beginnen im Leben die großen Tragödien!«
*
»Amos …?«
Das war Olivias erste und einzige Frage, als ihr Bewußtsein langsam zurückkam. Als Kinjal den Kopf schüttelte und sich abwandte, seufzte sie leise und erschöpft und versank wieder in die Welt ihres stummen Leids. Nach ihrem neugeborenen Sohn fragte Olivia nicht.
»Der eine verliert einen Sohn, der andere bekommt einen«, sagte Kinjal. »Nimmt denn die grausame Ironie des Schicksals im Leben Ihrer Cousine kein Ende?« Olivias bedenklicher Gesundheitszustand und der Verlust ihrer Willenskraft machten Kinjal und Estelle niedergeschlagen. Sie hatten beide Olivia geistig und körperlich noch nie in einem solchen Tief erlebt. Und sie wußten nicht, wie sie Olivia aus diesem Sumpf heraushelfen konnten, in dem sie täglich tiefer zu versinken schien. »Seien wir wenigstens dafür dankbar, daß es in dieser Situation einen Gewinner gibt.«
»Olivia hat nicht nur einen, sondern zwei Söhne verloren«, sagte Estelle. Sie fand keine Entschuldigung für das Verbrechen.
»Aber Jai weiß das nicht.«
»Das mindert die Ungerechtigkeit für den Betroffenen nicht, der bereits soviel aufgeben mußte.« Estelle meinte anklagend: »Ich kann nichts finden, um ihn zu verteidigen, nichts, ganz gleich, wie sehr er provoziert worden ist.«
Kinjal senkte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Ich habe nur einen egoistischen Gedanken ausgesprochen, um meine eigene Auffassung von ihm zu rechtfertigen. Ich kann mich doch nicht so in Jai geirrt haben?«
Die Suche nach Raventhorne und seinen Geiseln ging weiter, aber ohne großen Erfolg. Beinahe eine Woche war seit der Entführung vergangen. Es gab noch immer keine Hinweise, die sich als nützlich erwiesen. Wäre Olivia über den Stand der Dinge informiert gewesen, hätte sie sich vielleicht an eine Äußerung von Arthur Ransome erinnert: Jai hatte nicht nur Indien auf seiner Seite, sondern die Reihen schlossen sich auch wieder einmal fest gegen den gemeinsamen Feind, die Engländer. Es meldeten sich viele, die behaupteten, ihn hier, da und dort gesehen zu haben, aber jede Aussage stand im Widerspruch zu anderen, und alle Spuren führten in eine Sackgasse. Selbst Arvind Singhs unantastbarer Ruf und das hohe Ansehen, das er unter den Indern genoß, vermochten daran nichts zu ändern. Er bot nicht dreißig Silberlinge, sondern das Vielfache, aber wenn es einen Judas gab, dann schwieg er.
Es ließ sich nicht vermeiden, daß Gerüchte verbreitet
Weitere Kostenlose Bücher