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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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ein zweiter. Er war einmal weiß gewesen, inzwischen aber fleckig und zerknittert, als sei er durch viele Hände gegangen. Olivia überließ sich dem Sog. Sie öffnete auch diesen Umschlag. Darin lag nur ein Blatt Papier.
    »Ich habe Dir einmal gesagt, ich sei schwach«, las sie in der Handschrift, die sie bis in alle Einzelheiten kannte. »Wenn Du das liest, wirst Du es nicht länger bezweifeln. Wäre ich kein Feigling, dann müßtest Du nicht den Schmerz ertragen, diese Worte in einem Brief zu lesen. Statt dessen würde ich Dich in meinen Armen halten und Dich mit meiner Zärtlichkeit umfangen. Du würdest Deine Ohren an mein Herz drücken und aufmerksam seiner Sprache lauschen, den Tönen der Liebe, für die es keine Sprache, keine Worte gibt, denn sie sind in ihrem Schweigen beredt. Ich müßte Dich nicht um Vergebung für die unzureichenden Sätze bitten, hinter denen ich mich verberge, weil mir der Mut fehlt, Dir gegenüberzutreten. Und irgendwo in Deinem Herzen, das weiß ich, würdest Du nicht daran zweifeln, daß ich Dich liebe, trotz der Befehle und Zwänge aller Vernunft.
    Ich nehme Estelle mit nach England. Warum? Ich habe nicht die Kraft, Dir Antworten zu geben. Dazu mußt Du zu Arthur Ransome gehen, denn er weiß alles und noch mehr. Ich tue, was ich tun muß. Ich vollziehe ein Ritual des Exorzismus. Wenn ich Dich verdienen soll, dann muß ich unbefleckt zurückkehren. Und ich werde zurückkehren, meine Olivia, das bitte ich Dich, mir zu glauben. Den Schmerz, den ich Dir zumute, erleide ich zehnfach. Aber wenn Du mir in Deiner grenzenlosen Güte auch weiterhin vertrauen, sogar das ertragen kannst, was ich jetzt gewählt habe zu sein, dann wird sich die Hoffnung erfüllt haben, die die Lebenskraft dieses unseligen Mannes ist, dem Du bereits alles anvertraut hast.
    Wohin ich auch gehe, meine schöne, unschuldige Olivia, Du wirst mich begleiten – unsichtbar und unhörbar, aber immer da, wo ich Dich erreichen und berühren kann. In sechs Monaten werde ich zurückkommen. Du mußt dann bereit sein, einen Mann zu empfangen, der am Ende seiner Kräfte ist, weil Du ihm fehlst, ein Mann, der noch weniger heil und ganz ist als jetzt. In seiner ungeheuren Anmaßung wird er glauben, daß Du ihn noch immer liebst. In seiner größten Demut wird er wissen, Du liebst ihn, nicht weil er es verdient, sondern weil Du ihm gnädig verzeihst.
    Ich verletze Dich, ich stelle unglaubliche Forderungen, ich erkläre nichts. Ich fordere von Dir ein Opfer, das Du nicht verstehen kannst. Schamlos biete ich Dir dafür nichts als mich und alles, was ich habe – und eine Liebe, die alle meßbaren Dimensionen übersteigt. Ich staune über diese lächerliche Entschädigung und frage mich: Kann es je genug für Dich sein? Der kühle Verstand sagt mir, was ich erwarte, ist Wahnsinn. Der egoistische Instinkt tröstet mich, daß es nicht so ist. In meiner dunkelsten Stunde klammere ich mich mit Staunen an Deine leichtfertigen, aber so mutigen Beteuerungen, an Dein Verspechen, mir rückhaltlos zu vertrauen. Ich trage Dich bei mir – immer. Ich fahre davon, aber ich lasse mein Herz zurück.«
    Olivia hielt den Brief in der Hand, den Jai Raventhorne geschrieben und an dessen Vorhandensein sie nicht geglaubt hatte. Sie saß die ganze Nacht über am Fenster, blickte hinaus und sah nichts. Sie trieb in der tosenden Flut der Erinnerungen, aber schließlich gelang es ihr mit ungeheurer Willenskraft, dagegen anzukämpfen und die Fluten zurückzudrängen. Als das erste violette Morgenlicht den Horizont im Osten färbte, waren ihre Gedanken wieder ruhig und klar. Gefaßt nahm sie das Tagebuch und den Brief, ging damit ins Bad und verbrannte beides in einer Ecke auf dem Steinboden. Ohne besondere Gefühle sah sie zu, wie die Flammen das Papier in schwarze Asche verwandelten. Dann fegte sie das kleine Häufchen vorsichtig auf eine Schaufel und streute die Asche im frühen Morgenlicht aus dem Fenster.
    Es gibt eine Zeit der Erinnerung, es gibt eine Zeit des Vergessens – eine Zeit, um das zurückzulassen, was unwiederbringlich verloren ist.
    Doch in der nächsten Nacht setzten Olivias Alpträume ein und quälten sie unerbittlich.
    *
    Erstaunlicherweise war die Spinne noch da – und auch ihr Netz.
    Es war zumindest irgendeine Spinne und irgendein Netz. Olivia besaß nicht das erforderliche Wissen, um eine Spinne von einer anderen unterscheiden zu können. Deshalb wäre es kühn gewesen, zu behaupten, dies sei die dicke, pelzige kleine Spinne von

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