Wer Liebe verspricht
Zeugnisse, und Cornelia Donaldsons Schwägerin in Bombay empfahl sie, denn sie sei in Kinderpflege und im Haushalt bestens bewandert. Außerdem war sie aufgeweckt, fröhlich, angenehm und konnte ansteckend lächeln – das gefiel Olivia am besten. Sie erzählte, ihr Vater sei Adjutant eines hohen Offiziers in Puna gewesen und im afghanischen Krieg gefallen. Die Mutter, deren Nationalität in der walnußbraunen Haut der jungen Frau unverkennbar war, sei bald darauf an den Pocken gestorben. »Aber ich habe eine Großmutter in Newcastle«, erzählte sie begeistert bei der Aussicht auf eine Überseereise. »Sie ist Engländerin, denn mein Vater war auch Engländer.«
»Und wofür halten Sie sich?« fragte Olivia.
Die Frage überraschte sie. »Für eine Engländerin natürlich. Weshalb sollte ich sonst unbedingt nach Hause fahren wollen?«
Olivia brachte es nicht über sich, ihr jetzt schon zu sagen, daß ihr ›Zuhause‹ oder das, was sie dafür hielt, eine halbe Weltreise von Honolulu entfernt sein würde. Die Antwort der jungen Frau machte sie niedergeschlagen. Wie Amos gehörte sie zu zwei Welten – oder zu keiner. Und für Menschen wie sie, die von beiden Welten abgelehnt wurden, standen nicht viele Möglichkeiten offen. Es gab jedoch die dritte Welt – Amerika! –, in der sich viele Völker mischten und die diesbezüglich weniger grausam war als die meisten anderen. Olivia beschloß, die junge Frau einzustellen, und verkürzte ihren Namen sofort auf Sheba.
Erst nachdem Olivia dem neuen Kindermädchen die Pflichten erklärt und ihr den Tagesablauf des Kindes aufgeschrieben hatte, bemerkte sie plötzlich das Tagebuch, das immer noch auf dem Tisch lag. Der Wind hatte die Seiten umgeblättert, und vor ihr sah sie eine Seite, auf der nur zwei Sätze standen.
Gestern bin ich einem Mann begegnet. Ich würde ihn gerne wiedersehen.
Diese unschuldigen und ahnungslosen Worte hatte sie einmal auch ihrem Vater in einem Brief geschrieben. Sie hatte nicht geahnt, daß diese harmlosen Worte den Anfang einer Odyssee bildeten, die vor mehr als zwei Jahren begonnen hatte und erst jetzt zum Abschluß gebracht werden – vielleicht aber auch unbeendet bleiben sollte.
Mein Leben ist zu Ende und doch nicht zu Ende.
Das hatte ihre Tante einmal über ihr eigenes Leben gesagt. Die Analogie beunruhigte Olivia.
Unklugerweise begann sie, in den Seiten des Tagebuchs zu blättern, ohne daß ihr bewußt wurde, was sie tat. Ihr Bericht begann aufgeregt mit der Ankunft in Kalkutta, ihrer ehrfurchtsvollen Bewunderung des Mannes, der ihr Onkel war, und der ersten Begegnung mit ihrer Tante und Estelle. Wie von der eigenen Handschrift hypnotisiert, las Olivia noch einmal ihre ersten Eindrücke, die Verwirrung, das Heimweh, die Begeisterung, Verwunderung und die Ausflüge in ein Land, das so erschreckend fremd war. Unter den vielen Notizen befand sich auch die Erwähnung des unerschrockenen jungen Engländers Courtenay (oder Poulteny!) der ›einheimisch‹ geworden war, was Olivia zum Besuch des Basars in der Chitpur Road veranlaßt hatte. Hin und wieder fanden sich leere Seiten, wenn sie zu müde oder zu erregt gewesen war, um ihre Gedanken niederzuschreiben. Der letzte Eintrag und das letzte Datum im Tagebuch, dem sie alles anvertraut hatte, war der Tag vor Jai Raventhornes Abreise auf der Ganga mit ihrer Cousine Estelle – und mit ihrer Zukunft.
Das Tagebuch war ein Mikrokosmos ihres Lebens in Kalkutta vom ersten Tag bis hin zu den hastig hingekritzelten Sätzen, die sie in ihrem Jubel an diesem Tag geschrieben hatte. Im gierigen Wiedererleben dieser Zeit durch das Tagebuch stellte Olivia fest, daß sie einen großen Fehler begangen hatte. Wie durch ein verstopftes Kanalrohr, das mit scharfen Chemikalien gereinigt wird, begannen die Erinnerungen zu fließen – erst langsam, dann schneller und schließlich wie ein Sturzbach. Mit dem ungehinderten Fluß kam ein Berg von Bruchstücken, vergessenem Treibgut eines Lebens, das vielleicht nie Wirklichkeit geworden wäre. Noch ehe Olivia das Leck verstopfen konnte, war ihr Bewußtsein überflutet. Sie bekam keine Luft mehr und glaubte zu ertrinken, aber dann trieb sie auf den Wellen der Erinnerung dahin. Wie in Trance ging sie zur Kommode und nahm den braunen Umschlag heraus, den man ihr bei der Rückkehr von Amos übergeben hatte. Ihr Verstand wehrte sich empört, aber die Finger rissen den Umschlag auf und entzogen sich jeder Kontrolle durch ihren Kopf.
In dem braunen Umschlag lag
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