Wer Liebe verspricht
Olivia riß sich vom Anblick der blauen Blüten, die hämisch zu lachen schienen, los und bekam plötzlich einen trockenen Mund. »Nein. Sie ist vertrocknet.«
Er lachte leise und mitfühlend. »Dann müssen Sie es mit einer anderen noch einmal versuchen.« Ehe sie es verhindern konnte, hatte er ihr eine Ranke in die Hand gedrückt. Olivia stieß einen leisen Schrei aus, zuckte zusammen und ließ sie auf den Boden fallen. Von ihrer Reaktion verletzt, bückte sich der alte Mann und hob die Orchidee wieder auf. Dann schob er die Blüten beiseite und zeigte ihr den Stiel. »Sehen Sie, Memsahib? Sie hat keine Dornen.«
Olivia schämte sich wegen ihres albernen Verhaltens und nahm ein paar Münzen aus der Handtasche. »Tut mir leid. Ich habe die Blüten zerdrückt. Nein, natürlich hat sie keine Dornen. Ich bin nur erschrocken. Bitte lassen Sie mich dafür bezahlen. Ich reise bald in meine Heimat zurück.«
Er hörte nicht auf ihre Erklärung, sondern strich nur versonnen die Blütenblätter glatt. Die Münzen nahm er nicht. »Ich kann von Ihnen kein Geld nehmen, Lady Memsahib, denn Chandramanis Junge war mit Ihnen hier.« Olivia sah ihn verständnislos an, und deshalb fuhr er erklärend fort: »Der Mann, den die Weißen manchmal Kala Kanta nennen.«
»Chandramani … hieß so seine Mutter?« fragte Olivia überrascht.
»Ja.«
»Sie haben seine Mutter gekannt?«
»O ja. Sie war die Tochter meiner Schwester. Das arme, irregeleitete Kind! Sie ist sehr jung gestorben, sehr jung.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf und legte die Rispe zu den anderen Orchideen.
Olivia fiel wieder ein, daß der Blumenverkäufer assamesisch mit Jai Raventhorne gesprochen hatte und ihn mit großer Zuneigung in seinen alten Augen angesehen hatte. Jai hatte ihr damals nicht gesagt, daß dieser Mann sein Onkel war – natürlich nicht. »Der Name … Chandramani«, fragte sie benommen und hielt sich an dem Blumenstand fest, »bedeutet ›Mondperle‹, nicht wahr?«
Der Mann nickte bestätigend. »Mondperle«, wiederholte er traurig und deutete zum Himmel. »Aber Chandramani verbreitete nie ihren Glanz … Das unglückliche Mädchen verbreitete nie ihren Glanz.«
Ich darf ihm nicht zuhören. Ich darf hier nicht stehenbleiben!
Aber wie in Trance konnte Olivia sich nicht von der Stelle bewegen. »Erzählen Sie mir von Chandramani«, hörte sie sich sagen.
»Es gibt nichts zu erzählen.« Er sah sie nachdenklich an. »Sie starb vor vielen, vielen Jahren.«
»Wo … hier in Kalkutta?«
»Ja, unser Stamm konnte sie nicht wieder aufnehmen.«
»Wie ist sie gestorben?«
Er hob die Schultern. »Das weiß niemand außer ihrem Sohn. Die Sahibs haben Chandramanis Glanz genommen.« Er spuckte gekonnt in die Abflußrinne. »Nach ihrem Tod wanderte der Junge ganz allein in die Berge zurück, zu seinem Großvater. Aber er hat nie von Chandramani gesprochen, auch nicht ihrem Vater gegenüber. Ihre Mutter war bereits aus Kummer, daß ihr Kind nie zu ihnen zurückkommen würde, gestorben.« Er brach ab und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Die Lady Memsahib möchte das alles wissen. Warum?«
Olivia hörte seine Frage nicht, aber sie hörte sich selbst mit einer fremden Stimme, mechanisch wie eine Marionette sagen: »Ja. Er war damals zehn Jahre alt. Aber seine Leute können ihn nicht erkannt haben.«
»Nein.« Der Mann sah sie durchdringend an. »Dem Aussehen nach konnten sie ihn nicht erkennen. Er hatte des Gesicht eines Sahibs und sah nicht wie einer von uns aus. Aber man erkannte ihn an anderen Dingen. Er hatte Chandramanis Schmuck bei sich. Sonst wußte er nichts, denn er hatte das Gedächtnis verloren und erinnerte sich kaum an seine Mutter oder an ihren Tod. Unsere Alten berieten über den Fall. Wie immer waren sie klug und gerecht. Chandramani hatte gesündigt und das Stammesgesetz gebrochen. Das Kind traf keine Schuld. Die Leute seines Vaters hatten ihn abgelehnt. Man durfte ihn nicht sich selbst überlassen. Der Großvater des Jungen war damals schon ein Witwer. Er nahm den Jungen mit Freuden zu sich und liebte ihn von Herzen – wie wir alle. Aber dann starb auch der Großvater, und am Tag der Verbrennung verschwand der Junge wieder. Er war immer verschlossen und seltsam gewesen. Sein Gedächtnis hatte sich nicht wieder richtig eingestellt. Jetzt ist das natürlich ganz anders. Er ist ein großer Mann. Er ist Kala Kanta …« Der Mann lächelte und freute sich in stillem Stolz. Dann musterte er sie wieder und fragte:
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