Wer Liebe verspricht
war. Die Atemzüge versorgten ihre Lungen mit Sauerstoff, der ihre Panik vertrieb und ihr Kraft gab, sich auf ihre Absicht zu besinnen. Sie wollte eine Schuld begleichen – nicht mehr und nicht weniger. Geräuschlos trat sie hinter einen Busch, um Zeit zu finden, ihren Atem wieder zu beruhigen. Jai lag ausgestreckt auf einer Stufe, der Kopf ruhte auf den Händen. Er starrte angestrengt auf etwas, vielleicht auf das gegenüberliegende Ufer oder auf den Horizont oder die silbernen Strahlen des aufgehenden Mondes … Olivia beobachtete ihn stumm. Die Augenblicke verschmolzen zu einer Ewigkeit. Es trennten sie nur wenige Schritte, aber selbst sie waren Symbole der Unendlichkeit. Im Schutz des Buschwerks bemühte sich Olivia darum, in Gedanken zu formulieren, was sie sagen wollte, aber dann sprach er plötzlich als erster.
»Du hättest es mir sagen sollen.«
Er setzte sich langsam auf, aber er drehte sich nicht um. Wie ein Raubtier hatte er ihre Anwesenheit gewittert. Vielleicht lag es auch daran, daß er sie nicht ansehen mußte, um sie zu sehen. Vielleicht hatte er sie erwartet. Er wußte, daß sie kommen würde …
Olivia ging die Stufen hinunter. Ihr Atem war wieder ruhig. »Das konnte ich nicht. Ich habe gefürchtet, daß du ihn mir wegnehmen würdest.«
Er sah sie noch immer nicht an. »O ja, deine Furcht war begründet!«
Olivia setzte sich auf die Stufe über ihm. Sie sah sein Gesicht deutlich und konnte jeden Ausdruck darin lesen. »Du hättest ihn behalten können.«
»Ja.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Warum ist noch immer deine liebste Frage!«
»Dann beantworte sie.« Olivia war entsetzt, wie schlecht und eingefallen er aussah.
»Meine Motive sind nicht wichtig. Du hast deinen Sohn. Sei damit zufrieden.«
Nein, damit konnte sie nicht zufrieden sein. Erst mußte sie ihn zu einem endgültigen Verzicht zwingen, der so unwiderruflich war wie einst seine Absicht, sich von ihr lossagen zu wollen. »War das dein Wunsch?«
Er lachte. Es klang hohl. »Du möchtest dein Gewissen auf meine Kosten entlasten – geht es dir darum?«
»Ich muß mein Gewissen nicht entlasten«, erwiderte sie scharf. »Du hast mir zurückgegeben, was mir rechtmäßig gehört!«
»Richtig. Trotzdem werde ich dein Gewissen entlasten.« Er richtete sich auf und setzte sich an das andere Ende der Stufe. »Nein, ich wollte ihn nicht behalten. Selbst ich, mit all meinen Fehlern, wollte einem Kind nicht vorsätzlich die Mutter nehmen.«
Er sagte das mit größter Bitterkeit, und in seiner Lüge spürte Olivia den Schmerz, den auch sie kennengelernt hatte. Sie verwundete ihn nicht noch mehr, indem sie seine Lüge anzweifelte. »Dann habe ich dich falsch eingeschätzt. Ich muß mich bei dir entschuldigen und möchte meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.«
»Bist du deshalb gekommen? Willst du dich entschuldigen, dich bedanken?«
Geht es mir darum?
»Ja, es war eine von dir unverdiente Fehleinschätzung. Ich dachte, ich würde meinen Sohn nie wiedersehen. Damit hattest du gedroht …«
Es klang rauh, als er heftig einatmete. »Du schuldest mir nichts. Deine Fehleinschätzung war nicht ungerechtfertigt, auch dein Mißtrauen nicht.« Als er sich ihr schließlich zuwandte, beleuchtete der Mond sein eingefallenes und gequältes Gesicht. »Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht, warum du Freddie geheiratet hast«, murmelte er betroffen. »Ich habe nie im Traum daran gedacht!«
Olivia wollte aufstehen und weggehen, aber sie konnte es nicht. Es war noch nicht alles gesagt, was gesagt werden mußte. Ihre Absicht fesselte sie. Bei dieser letzten Begegnung, mit der ihre Odyssee endete, durfte sie nicht schweigen. Sie biß die Zähne zusammen und blieb sitzen. Das Bellen der zurückkommenden Hunde durchbrach die Stille. Den Hunden war sie noch immer vertraut, und sie sprangen munter und keineswegs feindselig die Stufen herunter. Auch Tiere haben Erinnerungen, die sie nicht loslassen.
»Beweg’ dich nicht. Dann tun sie dir nichts«, murmelte er mechanisch. Sofort fiel ihm ein, daß er schon einmal an dieser Stelle dieselbe Warnung ausgesprochen hatte, und er sagte bedrückt: »Wie anders hätte unser Leben sein können, wenn ich in jener Nacht in der entgegengesetzten Richtung spazierengegangen wäre!«
»Unser Leben wäre nicht anders geworden. Das Schicksal ist tückisch und hätte bestimmt dafür gesorgt, daß wir uns an einer anderen Stelle und zu einem anderen Zeitpunkt begegnet wären.«
Das Ausmaß ihres Zynismus
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