Wer Liebe verspricht
Dämmerung brach an, und offenbar waren die Angelegenheiten des Hofes für diesen Tag erledigt. Kinjal entschuldigte sich und ging zum Tempel, um das Abendritual nachzuholen. Olivia blieb sitzen und hing schweigend ihren Gedanken nach, während sie aus der Ferne die Zeremonie beobachtete. Der Dreizack auf dem Tempel lag im Dunkel. Trotzdem erschien Olivia seine Präsenz so vielsagend und so allgegenwärtig wie das Läuten der Messingglöckchen, die das Ritual im Tempel begleiteten …
Zu Olivias Unterhaltung hatte der Maharadscha für den Abend ein prächtiges Ballett im Audienzsaal des Hauptgebäudes angesetzt. Der Saal war ganz in Scharlachrot und Gold gehalten und der größte Raum, den Olivia je gesehen hatte. Sie fühlte sich geehrt und war gerührt. Kinjal und sie saßen inmitten von Hofdamen und aufgeregten Dienerinnen in einer Art großer, durch Vorhänge abgetrennter Loge, denn der Saal war voller Menschen. Der Maharadscha und die höchsten Würdenträger des Hofes saßen in einer anderen Loge. Das Ballett erzählte eine Geschichte aus dem Hinduepos Ramajana. Der Tanz mit seinen vielen komplizierten Schritten war von fließender Anmut und einem fesselnden Rhythmus. Die Palastmusiker wiegten sich im Takt und spielten auf fremdartigen Instrumenten. Die Tänzer trugen alle Messingglöckchen an den Fußgelenken. Für Olivia war es ein völlig neues, aber außerordentlich schönes Erlebnis, besonders die komplizierten Improvisationen und Innovationen der Musiker, die – wie die Maharani ihr erklärte – bestimmten, allerdings schwer verständlichen Regeln folgten. Beim Abendessen nach westlicher Art waren sie im Palast der Maharani nur zu dritt. Aus der lockeren Unterhaltung mit dem Maharadscha, die alle möglichen Themen streifte, erfuhr Olivia viel über das Geheimnis der Herrschaft, bei deren Ausübung sich in Indien oder zumindest in Kirtinagar Pragmatismus und Tradition auf subtile Weise die Waage hielten. Der Maharadscha hatte für seinen Staat ehrgeizige Pläne, aus denen großer Einfallsreichtum sprach. Dabei dachte er in erster Linie an das Wohl seiner Untertanen.
Zwei Themen, die Kohle und Jai Raventhorne, blieben ausgeschlossen, obwohl über so vieles gesprochen wurde. Olivia zweifelte nicht daran, daß es in beiden Fällen keineswegs zufällig geschah.
»Ausgangspunkt für die Jagd wird mein Pavillon im Dschungel sein.« Das Abendessen war vorüber, und der Maharadscha hatte die gurgelnde Hooka mit sichtlichem Genuß beinahe zu Ende geraucht.
»Wir müssen im Morgengrauen aufbrechen, damit wir ihn erreichen, ehe die Sonne zu hoch am Himmel steht.«
Das bedeutete in anderen Worten, man würde früh zu Bett gehen. Aber Olivia war immer noch viel zu aufgeregt von allem, was sie gesehen, erlebt – und gehört – hatte. Sie fühlte sich überhaupt nicht müde. »Ich lese üblicherweise noch eine Weile, bevor ich schlafen gehe. Mein Onkel hat mir erzählt, daß Hoheit eine umfangreiche Bibliothek mit einer Sammlung seltener Bücher besitzen. Darf ich vielleicht eine halbe Stunde darin stöbern?«
Der Maharadscha freute sich über Olivias Bitte. Sofort wurde einem Hofbeamten befohlen, die Bibliothek, die sich in einem eigenen Gebäude befand, aufzuschließen und vorzubereiten, damit Olivia sie benutzen konnte. Sie verabschiedete sich von Kinjal, die sie erst am nächsten Morgen wieder sehen würde, und folgte dem Maharadscha in den Park. Sie schlenderten langsam über den Weg und sprachen dabei über Bücher. »Bernières Reisetagebücher über Indien werden Sie vielleicht interessieren, Miss O’Rourke, und möglicherweise auch das epische Gedicht Shakuntala von Kalidasa. Ich habe englische Übersetzungen beider Werke.« Sie unterhielten sich noch einige Minuten auf den Stufen der Bibliothek. Es war ein hübsches, einstöckiges weißes Gebäude, um dessen Säulenvorbau sich violette Bougainvillea rankte. Schließlich entschuldigte sich der Maharadscha, er müsse noch einiges für den nächsten Tag vorbereiten. »Wir sind entzückt, Sie bei uns zu haben, Miss O’Rourke«, sagte er und fügte nach einem kurzen Zögern leise etwas höchst Ungewöhnliches hinzu, »aber ich hoffe aufrichtig, Sie haben niemals Grund, Ihren Besuch zu bedauern.«
Olivia blieb wie versteinert vor der Bibliothek stehen. Es wehte ein böiger Wind, und der Maharadscha hatte beinahe gemurmelt. Nach kurzer Überlegung kam sie zu dem Schluß, der Wind und die leisen Worte müßten dazu beigetragen haben, daß sie sich
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