Wer Liebe verspricht
Interesse bemerkte.
»Ich verehre Ma Durga, deren Fest wir in Kürze feiern. Ma Durga ist die Gefährtin des Gottes Schiwa.«
Schiwa!
Langsam glitt Olivias Blick an dem schlanken Turm des Tempels empor. In der untergehenden Sonne glühte und funkelte golden ein Dreizack. Die beiden äußeren Zacken beschrieben eine leichte Kurve nach innen. Die mittlere war gerade wie ein Pfeil und zielte in den Himmel. Olivia blieb wie gebannt stehen und konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. »Dieser … Dreizack. Hat er etwas zu bedeuten?«
»Es ist der Trishul, die Waffe Schiwas. Man findet ihn überall, wo Schiwa und seine Gefährtin verehrt werden.«
Sie setzten sich wieder, und Kinjal goß frischen Tee nach. »Hat der Dreizack darüber hinaus eine Bedeutung?« fragte Olivia, die immer noch auf den Turm blickte.
»In unseren Ritualen hat alles eine besondere Bedeutung. Nach unserem Glauben bestimmen drei Kräfte den Kreislauf des Lebens. Die göttliche Dreiheit besteht aus Brahma dem Schöpfer, Wischnu dem Erhalter und …« Sie schwieg.
»Schiwa?«
»Ja. Schiwa dem Zerstörer. Man sagt, der Dreizack ist die Waffe der Vernichtung.« Sie blickte Olivia unverwandt in die Augen. »Ja«, sagte sie ruhig, »deshalb hat Jai Raventhorne ihn als sein Zeichen gewählt.«
In Olivias Kopf explodierte etwas. Der Schock war so heftig, daß sie beinahe die Tasse fallen ließ, die sie in der Hand hielt. Blitzartig erkannte sie, daß ihre Gespräche sich den ganzen Tag nur auf das eine hin bewegt hatten: auf Jai Raventhorne. Und nachdem der Name gefallen war, hing er wie ein feiner, unsichtbarer, aber kalter Nebel zwischen ihnen. Sie führte die Tasse an die Lippen und trank. »Wen oder was will Jai Raventhorne zerstören?« Ihre Stimme zitterte trotz des Schocks nicht.
»Alle. Alles.« Kinjal klang traurig. »Am Ende vielleicht sich selbst.«
»Weshalb?« Ein Zug Ameisen lief über eine Ecke der Decke. Olivia sah ihnen gebannt zu.
»Jai trägt einen Zorn in sich, den er nicht zügeln kann. Dieser Zorn zwingt ihn, sich in Widerspruch zur ganzen Welt zu stellen. Das ist so und wird vielleicht niemals anders sein.«
Olivia dachte an seine Worte: Der Fluch, anders zu sein als die Herde! Wie ich in Indien …? Es war kühl am See, aber Olivia spürte, daß ihr der Schweiß auf der Stirn stand. »Und der Grund für diesen Zorn – sind es die Ausländer in Indien?«
»Nein, nicht nur, Jai trägt in seinem Inneren ein bösartiges Geschwür. Ich wünschte, es wäre anders, denn dieses Geschwür raubt ihm den Verstand und vergiftet sein Blut.« Kinjal entdeckte einen Marienkäfer auf ihrem Rock, hob ihn sanft mit dem Zeigefinger hoch und blies ihn davon.
»Jai … interessiert Sie, Olivia?«
Dieselbe Frage hatte der Maharadscha gestellt. »Ich kenne Mr.Raventhorne kaum.« Sie konnte nicht verhindern, daß es etwas gezwungen klang. »Ich habe ihn nur sehr kurz getroffen.«
»Und wenn Sie ihn hundertmal getroffen hätten«, sagte Kinjal mit einem beinahe verzweifelten Schulterzucken, »würden Sie ihn nicht besser kennen. Mein Mann sagt, Jai ist wie eine Zwiebel. Wenn man denkt, man hat das Innerste erreicht, entdeckt man unerwartet eine neue Haut.« Ihr plötzliches Lachen nahm dem Augenblick die Spannung, und Olivia stimmte erleichtert ein.
»Wenn es so ist, hat Mr.Raventhorne vermutlich mit seiner Behauptung recht, daß niemand einen anderen wirklich kennt!«
»Ja, Jai beweist mit der eigenen Person die Richtigkeit seiner Theorien. Sein Inneres ist selbst für uns ein unbekanntes Gebiet.« Sie wurde wieder ernst. »Ich binde Jai jedes Jahr die heilige rote Schnur um das Handgelenk, und ich nenne ihn meinen Bruder. Aber«, sie schüttelte den Kopf, als sei sie traurig, »manchmal ist er wie ein Besessener. Er macht mir Angst.«
Olivia hörte gebannt zu – aber auch seltsam gereizt. Weshalb erzählte die Maharani das alles ihr? Olivia kannte Jai Raventhorne doch kaum. Oder war ihr Ihteresse an ihm dermaßen offenkundig, ja aufdringlich? Und Olivia hatte das deutliche Gefühl, daß Kinjal mit ihren Enthüllungen einen Zweck verfolgte. Plötzlich kam ihr ein so lächerlicher, so verrückter Gedanke, daß sie über die Absurdität beinahe laut gelacht hätte. Waren Kinjals Worte als eine Art Warnung gedacht? Und wenn ja, weshalb …?
Im Augenblick sollten Olivias erregte innere Fragen jedoch weder gestellt noch beantwortet werden. Eine Dienerin erschien und kündigte die baldige Ankunft des Maharadscha im Zenana an. Die
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