Wer Liebe verspricht
ungehörig, das Wochenende in Kirtinagar zu erwähnen. Vergiß das bitte nicht, ja?«
Olivia seufzte. »Nein, Tante Bridget, ich werde es nicht vergessen.«
Um fünf Uhr nachmittags waren solche Gedanken plötzlich gegenstandslos. Sir Joshua kehrte erstaunlich früh und mit finsterer Miene aus dem Kontor zurück. Wortlos verschwand er in seinem Arbeitszimmer und schlug die Tür hinter sich zu. »Was ist los, Mama?« fragte Estelle erschrocken, »warum ist Papa so wütend?«
Lady Bridget kam sichtlich blaß die Treppe herab. Sie gab Estelle keine Antwort, sondern blieb wie erstarrt stehen und starrte schweigend auf die Tür des Arbeitszimmers. Dann gab sie sich einen Ruck und nahm die letzten Stufen. »Er hat Ärger im Kontor«, erklärte sie ruhig, »du weißt doch, wie sich dein Vater über jede Kleinigkeit aufregt. Bis zum Abendessen hat er sich bestimmt wieder beruhigt.« Aber in ihren blauen Augen stand Angst.
Sir Joshua hatte sich bis zum Abendessen nicht ›beruhigt‹. Er weigerte sich, überhaupt zum Essen zu erscheinen. Während sie zu dritt im Speisezimmer saßen, schien Lady Bridget mit ihren Gedanken woanders zu sein und sprach nur wenig. Auch Estelle hielt sich mit den üblichen Klatschgeschichten zurück. Nach dem Essen ließ Lady Bridget ein Tablett für ihren Mann zurechtmachen und übergab es Olivia.
»Josh spricht doch mit dir über seine Angelegenheiten, Liebes. Vielleicht wird er dir sagen, weshalb er so verstimmt ist.« Sie lächelte tapfer und fügte hinzu: »Ich sage es schon die ganze Zeit, er braucht unbedingt Urlaub. Er arbeitet zu lange und zuviel. Das wird seiner Gesundheit schaden.«
Im Arbeitszimmer war es dunkel. Olivia sah schattenhaft die Gestalt ihres Onkels vor dem Fenster, dessen Vorhänge noch nicht zugezogen worden waren. Eine schwach glühende Zigarrenspitze leuchtete bei jedem Zug rot auf. Olivia blieb an der Tür stehen und räusperte sich.
»Bridget?«
Olivia tastete sich zum Schreibtisch und stellte das Tablett ab.
»Nein, Onkel Josh, ich bin es, Olivia.« Er sagte nichts. »Ich bringe dir im Auftrag von Tante Bridget kalten Braten und eine Flasche Portwein.«
Erst nachdem sie die Petroleumlampen angezündet und auf dem Schreibtisch Platz für Teller und Glas gemacht hatte, drehte er sich um: »Setz dich, Olivia.«
Sie beobachtete ihn besorgt, während er zum Schreibtisch herüberkam und schwerfällig Platz nahm. »Was ist los, Onkel Josh? Du siehst so … merkwürdig aus. Geht es dir nicht gut?« Sein Gesicht wirkte nicht mehr zornig, aber die tiefen Falten um den zusammengepreßten Mund verhießen nichts Gutes.
»Wir haben schlechte Nachrichten von Gupta erhalten«, sagte er knapp. Achtlos spießte er mit der Gabel eine Scheibe Braten auf, schob sie ungestüm in den Mund und kaute darauf herum. Olivia wartete stumm, während er grimmig das Fleisch aß und mit einem Glas Portwein hinunterspülte. »Unsere Opiumsendung aus Nordbengalen ist unterwegs gestohlen worden.«
»Gestohlen? Von den Würgern?«
»Das glaubt Gupta.« Sir Josh wischte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab, warf sie auf das Tablett und lehnte sich zurück.
»Und du glaubst es offenbar nicht?«
Er lächelte bitter. »Nein, ich glaube es nicht. Gupta schreibt, er sei schwer verwundet, aber es ist niemand getötet worden. Das heißt entweder, die Würger sind plötzlich Weichlinge, oder Gupta ist ein verdammter Lügner!«
Olivia lief ein Schauer über den Rücken. Die Würger, so hatte sie gehört, waren eine fanatische Bande, die aus religiöser Überzeugung mordete. Sie hatten im Norden Indiens massenweise Menschen umgebracht. Sie warfen ihren Opfern die Schlingen so geschickt um den Hals wie Cowboys den Rindern das Lasso. Erst vor zehn Jahren, als John Sleeman Kommissar zur Bekämpfung der Würger- und Räuberbanden geworden war, hatte sich das geändert. Aber selbst jetzt, nachdem Tausende gefangengenommen und zum Tode verurteilt worden waren, kannten die Würger keine Gnade und leisteten immer ganze Arbeit.
»Weshalb sollte Gupta lügen?« fragte Olivia unsicher, »er war dir doch immer treu ergeben.«
»Weshalb?« schrie er wieder wütend, »aus dem ältesten Grund der Welt – dreißig Silberlinge! Die Treue der Eingeborenen, mein liebes Kind, ist leicht zu kaufen. Ganz besonders, wenn sie die Reihen gegen den gemeinsamen Feind, gegen die Engländer, schließen. Gupta ist ein Banian, und diese Kaste ist nur dem Mammon treu ergeben. Als der Preis stimmte, war er treu, aber
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