Wer liest, kommt weiter
unser Verhältnis zur Zeit ist belastet, nicht nur durch den beschleunigten Fortschritt und die sich daraus ergebende Hektik, die schon Goethe beklagte, sondern auch durch die neuen Medien, die uns die Zeit anders erleben lassen als früher. Das Vergangene ragt in die Gegenwart hinein: auf Fotos und vor allem in Filmen. Wir filmen mit dem Handy die Freundin und die Möwen am See und schauen den Clip gleich danach an. Dadurch erleben wir die Gegenwart nicht mehr wirklich und versäumen das Eigentliche. Denn, wie Marie von Ebner-Eschenbach in einem Satz sagte: Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.
Von den visuellen Medien werden wir zudem ständig eingeladen, überall aktuell und »live« dabeizusein: bei Katastrophen, Kriegen und Konflikten, bei allen Sensationen und immer bei sportlichen Großereignissen, die nur unseretwegen stattfinden.
Aus alldem ergibt sich der Zeitverlust, den wir seit Mitte der 90er Jahre hinnehmen müssen. Die klassischen Maschinen hatten uns immer Zeitgewinne beschert. Ganz anders die neuen Medien. Vor allem das Internet, gerade weil es so viel bietet (dazu mehr im zweiten Teil), ist eine große Zeitvernichtungsmaschine, wie es schon im Spiegel 8/2000 hieß. Und seit es, dank Handy, überall zugänglich ist, kostet es uns noch mehr Zeit.
Da wir alle deshalb immer weniger Zeit haben, gibt es zahllose Bücher zum Thema Zeitmanagement. In den meisten wird ausgerechnet das Hauptproblem nur am Rande oder gar nicht erwähnt: die vielen Stunden, die wir in der Freizeit mit den visuellen Medien verbringen. Und in kaum einem dieser Bücher wird das erste und wohl eindruckvollste Buch zum Thema genannt: Die Kürze des Lebens. De brevitate vitae von Seneca.
Der Kernsatz lautet gleich zu Beginn: Wir haben nicht etwa wenig Zeit, sondern viel davon verschwendet. Frei übersetzt: Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern wir verschwenden zuviel. Ref 53
Dann, im 3. Kapitel: Zugeknöpft sind sie [die Menschen], wenn es darum geht, das Vermögen zusammenzuhalten; sobald es aber bloß um Zeitaufwand geht, sind sie wahre Verschwender mit einem Gut, bei dem als einzigem der Geiz etwas Anständiges ist.
Und im 8. Kapitel: Ich muß mich immer wundern, wenn ich sehe, wie manche Menschen um Zeit bitten und die anderen sich ohne weiteres darum bitten lassen; ... wie wenn ein Nichts erbeten, ein Nichts gegeben würde. Mit dem Allerkostbarsten treibt man ein Spiel. Frei übersetzt: Das Allerkostbarste verspielt man.
Für Seneca war dieses Thema so wichtig, daß er im ersten seiner Briefe an Lucilius darauf zurückkommt:
Folge meinem Rat, mein Lucilius, widme dich dir selbst, halte deine Zeit zusammen und hüte sie; du hast sie dir bisher entweder geradezu wegnehmen oder heimlich entwenden oder auch nur entschlüpfen lassen. Glaube mir, es ist so, wie ich schreibe: ein Teil unserer Zeit wird uns offen geraubt, ein Teil uns heimlich entzogen, und ein dritter verflüchtigt sich. ... Nichts, mein Lucilius, ist unser wahres Eigentum außer der Zeit.
Daß die Zeit das Wertvollste ist, wurde auch von Benjamin Franklin (1706–1790) ausgesprochen, dem Harald Weinrich in seinem Buch Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (2004) ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Seine Mahnung Remember that time is money hält die heutigen Amerikaner leider nicht davon ab, einen Großteil ihrer Freizeit mit visuellen Medien zu verbringen und dafür manche 100-Dollar-Note auszugeben, auf der Benjamin Franklin sie anblickt.
Zum Schluß sei noch auf das wichtigste Jugendbuch zu diesem Thema hingewiesen, auf Michael Endes Momo. Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte (1973) und auf einen Zweizeiler von Erich Kästner (1899-1974):
Von Mord und Totschlag (1948)
Denkt ans fünfte Gebot:
Schlagt eure Zeit nicht tot! Ref 54
18. Tugenden und Laster, Gebote und Verbote
Wilhelm Busch (1832–1908): Gut und Böse
Tugend will, man soll sie holen,
Ungern ist sie gegenwärtig;
Laster ist auch unbefohlen
Dienstbereit und fix und fertig.
Gute Tiere, spricht der Weise,
Mußt du züchten, mußt du kaufen;
Doch die Ratten und die Mäuse
Kommen ganz von selbst gelaufen.
Dieses späte Gedicht von Wilhelm Busch klingt zynisch und boshaft und trifft doch einiges ganz genau. Die Tugend und das Gute, das sich sozusagen aus den ersten vier Buchstaben der Tuge nd ergibt, verlangen etwas von uns und werden deshalb gern
Weitere Kostenlose Bücher