Wer liest, kommt weiter
unterlassen. Das Laster, das Böse und die Sünde jedoch sind attraktiv und verlockend. Kurz: die Tugend ist langweilig, das Laster interessant. In Wirklichkeit ist es oft umgekehrt: Von den 120 Tagen von Sodom des Marquis de Sade bis zu den brutalen Horror- und Pornofilmen von heute zeigt sich die Eintönigkeit des Bösen, die im letzten Satz von Sartres Höllendrama Geschlossene Gesellschaft. (Huis clos, 1944) ihren Ausdruck findet: Eh bien, continuons! Also, machen wir weiter!
Anders als die drei Personen dieses Dramas, die in einem Hotelzimmer sitzen und ewig streiten, haben fast alle Menschen, auch wenn sie ihre Lebenszeit gar nicht und den Lebensort nur wenig ändern können, die Möglichkeit, einen eigenen Lebensweg zu suchen und zu finden. In den ersten Jahren sind es Mutter und Vater, die uns führen und mit uns gehen, auch die Frauen in den Horten und Kindergärten, später auch die Lehrer, und mehr und mehr lernen wir, uns selbst zu orientieren.
Bücher und ihre Autoren, aber auch manche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften können uns dabei helfen.
Seit jeher haben die Philosophen ihre Mitmenschen darauf hingewiesen, daß es Tugenden gibt, die uns zu einem glücklichen Leben führen können. Platon und Cicero nannten vier Kardinaltugenden (von lat. cardo, Türangel): Klugheit/Weisheit (prudentia/sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia).
Diese Verhaltensweisen sind nicht angeboren, können aber gelernt werden, auch durch Lesen. Ich selbst las als Student das erste Buch, das Josef Pieper (1904–1997) über die Kardinaltugenden geschrieben hat: Vom Sinn der Tapferkeit (1934). Darin beschreibt er den Zusammenhang dieser vier Tugenden so:
Die Klugheit ist die ranghöchste unter den Kardinaltugenden; sie verbürgt mit ihrem sachlichen Blick auf das objektive Sein die Wirklichkeitsgemäßheit des Handelns ... Was gut ist und was nicht, das bestimmt die Klugheit.
Die Klugheit können wir am besten von klugen Menschen lernen. Die Gerechtigkeit verwirklicht im Reden und Tun, was die Klugheit als gerecht erkannt hat. Die Tapferkeit kämpft für die Gerechtigkeit und gegen die Ungerechtigkeit. Auch die Mäßigung ist eine Tugend des Handelns, doch vor allem des Nicht-Handelns und Nicht-Tuns auf Grund dessen, was die Klugheit als das für uns rechte Maß erkannt hat.
In seiner Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles die Tugenden als rechte Verhaltensweisen in der Mitte zwischen zwei »Lastern«: Tapferkeit zwischen Angst und Verwegenheit, Sparsamkeit zwischen Geiz und Verschwendungssucht, Großzügigkeit zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel. Immer kommt es auf das rechte Maß an. Deshalb auch die Inschrift am Apollo-Tempel in Delphi: Nichts zuviel, mädén agán. Und diese maßvolle Mitte preist Horaz in seiner Ode II, 10 als aurea mediocritas, als »goldenen Mittelweg«. Ref 55
Diese vierte Tugend ist heute, im Zeitalter des Kapitalismus, besonders schwierig einzuhalten, weil sie fast täglich nötig und das Gegenteil so leicht möglich und viel verlockender ist, und dies schon in der Kindheit. Das wußte übrigens auch Plutarch (ca. 45–125) in seinem Buch Über Kindererziehung:
Man muß seine Kinder von jedem Umgang mit schlechten Menschen fernhalten, ganz besonders aber von den Schmeichlern. ... Sie richten Väter und Kinder zugleich zugrunde, verbittern den einen das Alter und verderben den anderen die Jugend, indem sie all ihren Ratschlägen die Aufforderung zu Lust und Vergnügen als unwiderstehlichen Köder anhängen. Die Väter ermahnen ihre Söhne zu Nüchternheit, die Schmeichlerverlokken sie zum Trinken über den Durst. Wo die Väter Anstand und Zurückhaltung predigen, heißt es: Freizügigkeit, wenn Väter zur Sparsamkeit raten: Verschwendung, wo sie zur Arbeitsamkeit ermuntern, heißt es: süßes Nichtstun. Denn, so erklären die Schmeichler, unser Dasein ist nichts weiter als ein Augenblick. Man muß leben und nicht am Leben vorbeigehen. Was brauchen wir uns um die Drohungen des Vaters zu kümmern, sagt einer. Das ist ein alter Schwätzer, der schon mit einem Fuß im Grabe steht, wir werden ihn schon bald zum Haus hinaustragen. Ein anderer führt dem jungen Mann eine Dirne zu oder auch eine verheiratete Frau und hilft ihm, die Ersparnisse des Vaters für sein Alter zu plündern und zu verschwenden.
Heute könnte man manche Profis der Werbung und der visuellen Medien »Schmeichler« nennen. Sie wissen, daß die Kinder sich lieber
Weitere Kostenlose Bücher