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Wer liest, kommt weiter

Wer liest, kommt weiter

Titel: Wer liest, kommt weiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Denk
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movieforum, aber kürzer kann ichs nun mal nicht, und wers eilig hat, soll das einfach überspringen. Treffen mit Celebrities? Na aber aufgepaßt!
    Nun noch ein Blick auf einen Bereich der Literatur, der selten mit der Geschichte in Verbindung gebracht wird: die Lyrik.
Guntram Vesper: Birlibi (1985)
 
In manchen Nächten meiner Kinderzeit
sprangen die hungrigen Ratten
aus den Abfallgruben von Frohburg
und gaben ihre Mordlust an die
ganze Stadt weiter
man konnte vor Haß nicht schlafen.
 
Die alten Geschichten. So viele.
Weit weg und sehr nahe.
    Wie die Kinderzeichnung von Reiner Kunze und Der Rauch von Bert Brecht hat auch dieses Gedicht weder Reime noch Metrum. Trotzdem ist es ein Gedicht. Denn man hört, wenn man es laut liest, klangliche Zusammenhänge der Worte mit A: manchen, sprangen, Ratten, Abfall usw., mit R: sprangen, Ratten, Gruben, Frohburg und Mordlust: was für ein Gleichklang! Das sind alte Geschichten, weit weg, aber so viele, sehr nahe! Ref 46 , Ref 47
    Der Aufbau dieses Gedichts aus einem Satz und drei kurzen Satzteilen ist dialektisch wie bei Brecht und Kunze, die Vesper natürlich kannte. Doch seine Gedichte sind keine Gedankenlyrik, keine Naturgedichte, sondern Erzählgedichte, sozusagen historische Balladen. Dazu paßt auch der Name Birlibi aus dem Märchen Rattenkönig Birlibi von Ernst Moritz Arndt. Dieser Name könnte fröhlich klingen. Hier steht er für Mordlust und Haß, diese häßlichen Begleiter der Menschheitsgeschichte, allgegenwärtig auch in der Welt der Computerspiele.
    Die Geschichte, das Geschehene, besteht aus einzelnen Geschichten. Hier eine dieser inzwischen alten, doch dem Dichter noch immer sehr nahen Geschichten aus demselben Band Frohburg. Neue Gedichte (1985):
    Ein Erwachsener erschreckt im Wald bei Frohburg ein Kind mit einer schaurigen Erinnerung an die Lynchjustiz, der im Zweiten Weltkrieg mancher Bomberpilot zum Opfer fiel. Man beachte die hörbaren Pausen nach dem 4., 5. und 8. Vers.
Guntram Vesper: Windbruch im Eisenberg
 
Hier ist
vor vielen Jahren
ein Mord passiert
 
hab keine Angst, der Schrei
des abgestürzten Fliegers, das
Klatschen des Knüppels sind
in das Holz der Bäume gezogen
man kann
nichts hören.
    Guntram Vesper schreibt auch Erzählungen und Romane. Als wir ihn im Herbst 1992 nach Weilheim einluden, enthielt das ihm gewidmete 34. Weilheimer Heft aber nur Gedichte: Birlibi und andere Gedichte. Das Wagnis gelang. Von der 5. bis zur 13. Klasse spürten die Schülerinnen und Schüler: Das ist ein Dichter mit einem ganz eigenen Ton, der uns etwas sagen kann über die dunklen Seiten der deutschen Geschichte nach 1933.
    Über die zweite deutsche Diktatur kann man wohl nirgends mehr erfahren als in literarischen Texten: z. B. von Wolf Biermann, Volker Braun, Günter de Bruyn, Uwe Johnson, Kirsten, Kunert, Kunze, Schädlich, Vesper oder Christa Wolf. Dasselbe gilt auch für die in der Liste der Lieblingsbücher (S. 251f.) genannten literarischen Zeugnisse aus anderen kommunistischen Diktaturen: von Michail Bulgakov, Bora Ćosić, Milan Kundera und Herta Müller, von Solschenizyn, Juri Trifonow oder Wladimir Woinowitsch. Hier nur eine Geschichte aus einem Buch über die Jugend in der DDR: Die wunderbaren Jahre (1976):
Reiner Kunze: Mitschüler
 
Sie fand, die Massen, also ihre Freunde, müßten unbedingt die farbige Ansichtskarte sehen, die sie aus Japan bekommen hatte: Tokioter Geschäftsstraße am Abend. Sie nahm die Karte mit in die Schule, und die Massen ließen beim Anblick des Exoten kleine Kaugummiblasen zwischen den Zähnen zerplatzen.
In der Pause erteilte ihr der Klassenlehrer einen Verweis. Einer ihrer Mitschüler hatte ihm hinterbracht, sie betreibe innerhalb des Schulgeländes Propaganda für das kapitalistische System.
    Das Buch Die wunderbaren Jahre enthält historische An/ek/doten, »(noch) nicht / heraus/gegebene« Geschichten. Diese hier spielt in Greiz um 1970. Als Personen treten auf: Sie, Kunzes Tochter, die den Vater über ihr Vorhaben informiert, die Massen der Mitschüler (Anspielung auf die »Arbeitermassen«), einer ihrer Mitschüler und der Klassenlehrer.
    Die Handlung hat vier Akte: Der Wunsch, die Ansichtskarte herumzuzeigen; die Verwirklichung und die Reaktion der Mitschüler, die schweigend, doch hörbar »westlichen« Kaugummi kauen; als Folge der Verweis; und der (Hinter)Grund: Der Lehrer reagiert auf die Denunziation, denn dieser »Mitschüler« könnte ja Stasi-Informant sein. Und der Sinn? Was ist das für

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