Wer liest, kommt weiter
ein Staat, in dem »Mitschüler« zu »Gegen-Schülern« werden? Ref 48
Zuletzt ein Antikriegsgedicht, zugleich ein Gedicht über bzw. gegen die christliche Hoffnung:
Peter Huchel (* 1903, † 1981): Dezember 1942 (1955)
Wie Wintergewitter ein rollender Hall.
Zerschossen die Lehmwand von Bethlehems Stall.
Es liegt Maria erschlagen vorm Tor,
Ihr blutig Haar an die Steine fror.
Drei Landser ziehen vermummt vorbei.
Nicht brennt ihr Ohr von des Kindes Schrei.
Im Beutel den letzten Sonnblumenkern,
Sie suchen den Weg und sehn keinen Stern.
Aurum, thus, myrrham offerunt...
Um kahles Gehöft streicht Krähe und Hund.
... quia natus est nobis Dominus.
Auf fahlem Gerippe glänzt Öl und Ruß.
Vor Stalingrad verweht die Chaussee.
Sie führt in die Totenkammer aus Schnee.
Wenn ich diese Ballade im Deutschunterricht besprach, fragte ich zuerst nach Assoziationen zu »Dezember«: Winter, Weihnachten, Frieden! Und zu 1942? Krieg, Zerstörung, Tod!
Dann vergegenwärtigten wir uns die Realität des Winterkriegs bei Stalingrad (das zerstörte Dorf, die tote Frau, das schreiende Kind, deutsche Soldaten) und die Vision Bethlehems: Maria, das Kind, die Heiligen Drei Könige. Diese schon im Titel sichtbare dialektische Struktur findet sich in sechs Strophen wieder, manchmal sogar zwischen zwei Wörtern: Maria, [Bethlehem] erschlagen [Stalingrad], Drei [B.] Landser [st.], des Kindes [B.] Schrei [set.], keinen [St.] Stern [B.].
In Strophe 7 aber ist Bethlehem verweht und ausgelöscht. Das Christkind ist tot. Es gibt keine Erlösung. Ref 49
Das Schicksal der 6. Armee scheint dies zu bestätigen. Von 220 000 Soldaten kamen nur etwa 6000 zurück. Ein Entlastungsangriff vom 12. bis 23. Dezember scheiterte. Sein Deckname: WINTERGEWITTER! Solche Andeutungskunst zeigt sich mehrfach: Statt Ochs und Esel überleben Krähe und Hund. Statt Gold, Weih-Rauch [!] und Myrrhe glänzt Öl und Ruß . Der Rauch, der in den Gedichten von Brecht und Kunze Wärme und Heimat bedeutet, ist bei Huchel nur noch als Ruß vorhanden, der Rest vom Rauch der Granaten und der Brände.
Dazu die Alliterationen, Assonanzen und Binnenreime: Wie Wintergewitter, zerschossen – Chaussee, Stall – Stalingrad, fror – Ohr, thus – Ruß, kahl – fahl usw. Wie in Schillers Nänie , Trakls Grodek und Celans Todesfuge ist das Schreckliche in der Schönheit der Sprache scheinbar aufgehoben.
Zuletzt die Form, das daktylische Metrum, die Paarreime. Warum diese seltene Form? Woran erinnern die Worte Bethlehems Stall? Wenn man sie singt, hört man Huchels Gedicht als Antwort auf Christoph von Schmids Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all! / Zur Krippe her kommet in Bethlehems Stall. Es ist eine Parodie und ein Widerruf der Weihnachtsbotschaft.
Aber ist die Aussage dieses Anti-Weihnachtsliedes endgültig? Woran erinnert der Stern vor dem Geburtsjahr des Dichters? Woran das Kreuz beim Todesjahr? Nach christlichem Glauben hat die Erlösung, die in einer Katastrophe, dem Tod am Kreuz, gipfelte, für alle Zeiten stattgefunden. Doch war sie von Anfang an gefährdet. Denn schon das Kind sollte auf Befehl des Herodes getötet werden. Und auf vielen alten Bildern leuchtet der Stern von Bethlehem über einem zerstörten Stall.
Aber während im Dezember 1942 Zehntausende deutsche und noch mehr russische Soldaten und Zivilisten in den Toten kammern aus Schnee umkamen und zugleich Zehntausende Juden, oft in Gaskammern, ermordet wurden, wurden überall Kinder geboren, unter ihnen auch ich. Und Millionen überlebten den Krieg, auch Peter Huchel, dessen Gedicht die Nachgeborenen an den Krieg erinnert und zum Frieden mahnt.
17. Wer liest, kann auch besser leben lernen
Am 6. Juni 1857 schrieb Gustave Flaubert an eine kluge Verehrerin, die ihn fragte, was sie nach Madame Bovary lesen solle:
Lesen Sie Montaigne. ... Aber lesen Sie nicht wie es die Kinder tun, um sich zu unterhalten, oder wie die Ehrgeizigen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben. Non. Lisez pour vivre.
Wir wollen das Lesen zum Vergnügen und zur Bildung nicht verachten, schon gar nicht das Lesen als Geistestraining. Denn auch dies trägt zu einem gelingenden Leben bei. Aber wir können in der Tat beim Lesen auch vieles direkt fürs Leben lernen.
Elke Heidenreich ist hier scheinbar skeptischer. Im Vorwort ihres Buches Wörter aus 30 Jahren (2003) schreibt sie:
Es gibt keine Sicherheiten, in gar nichts. Und missionarisch bin ich nur in einem, nie nachlassenden Punkt: Ich
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