Wer liest, kommt weiter
unterhalten lassen als lernen. Und während die Eltern und Lehrer die Kinder in die eine Richtung »erziehen« wollen, ziehen sie in die andere und »verziehen« so die Kinder.
Dabei geht es immer wieder um Gebote und Verbote, um Anweisungen und den Widerstand dagegen, um das, was wir tun oder lassen sollen und manchmal nicht lassen oder nicht tun.
Zu diesem Problem können wir immer etwas lernen, wenn wir lesen, wie Menschen sich bei Entscheidungen verhalten. Wer sich entscheidet, muß zuerst unterscheiden, d.h. die verschiedenen, voneinander unterscheidbaren Möglichkeiten vergleichen und sich dann für eine von mehreren entscheiden und zugleich von den anderen trennen und verabschieden, anders gesagt: sich das eine erlauben und anderes verbieten. Ref 56
Je mehr Möglichkeiten es jedoch gibt, desto schwieriger fällt uns die Entscheidung. Und weil wir nicht ohne Grund Angst haben, Fehlentscheidungen zu treffen, schieben wir manche Entscheidungen lange, manchmal auch zu lang, vor uns her.
Dieses Problem hat schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik gesehen:
Ferner kann man sich auf vielfache Weise verfehlen; denn das Schlechte ist dem Unbegrenzten zugeordnet, wie die Pythagoreer vermuteten, und das Gute dem Begrenzten; richtig handeln kann, man nur auf eine Art. Darum ist jenes leicht und dieses schwer. Leicht ist es, das Ziel zu verfehlen, schwierig aber, es zu treffen.
Daß wir uns vieles verbieten müssen, um das Richtige tun zu können, zeigt sich auch bei den Zehn Geboten. Acht dieser Gebote sind nämlich Verbote, das 1. und 2. sowie das 5. bis 10.: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis reden, nicht begehren deines Nächsten Frau, nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist. Doch diese Verbote können auch als Lebens-Regeln gelesen werden, die vor dem »unbegrenzten Schlechten« warnen.
Dabei betreffen das 5., 6. und 7. Gebot Taten (Mord, Ehebruch, Diebstahl), das 8. Gebot Worte (die Lüge), das 9. und 10. Gebot aber Gedanken und Gefühle (die Begierde und die Habgier), die Worten und Taten vorausgehen. Für letzteres finden wir in der Bibel zahlreiche Beispiele: die verlockenden Früchte im Paradies, der Neid Kains auf das gottgefällige Opfer Abels, die Blicke von Potiphars Frau auf Josef (Und josef war schön an Gestalt und hübsch von Angesicht. Und es begab sich danach, daß seines Herrn Frau ihre Augen auf Josef warf und sprach: Lege dich zu mir!... Und sie bedrängte Josef mit solchen Worten täglich. 1. Mose 39), die Blicke Davids auf Bathseba und die Gier des Königs Ahab nach dem Weinberg des Nachbarn (1. Könige 21). Es sind vor allem begehrliche Blicke, weshalb Jesus sagt: Und wenn dich dein Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus; es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes zu kommen, als mit zwei Augen in die Hölle geworfen zu werden. (Mk 9,47) Ref 57
Jesus, der selbst in der Wüste versucht wurde, spricht auch im Vaterunser von Versuchungen. Die Bitte, von ihnen verschont zu bleiben, ergibt sich aus der Erfahrung, daß es schwer ist, einer Versuchung zu widerstehen, wenn sie einmal da ist. Josef war eine seltene und deshalb zu Recht berühmte Ausnahme.
Auch die jüdische Thora wird im längsten Psalm nicht als einengendes Gesetz oder Gebot, sondern als Weisung gepriesen, die den Menschen hilft, recht zu leben: Ich habe Freude an deinen Mahnungen; sie sind meine Ratgeber. (Psalm 119, 24)
Weisungen und Anweisungen sind also, anders als Befehle, die manchmal willkürlich sind, als Hinweise gedacht. Sie sollen uns Wissen und Weisheit ermöglichen, so wie Gebote auch als Angebote zum rechten Leben verstanden werden können.
In der Literatur, auch in den Zeitungen lesen wir freilich öfter und wohl auch lieber über Menschen, die Fehler machen, als über solche, die vorbildlich sind. Kaiser Marc Aurel empfiehlt uns im 6. Buch seiner Selbstbetrachtungen das genaue Gegenteil:
Willst du dir eine Freude bereiten, so richte deinen Blick auf die trefflichen Eigenschaften deiner Zeitgenossen und sieh, wie der eine ein so hohes Maß von Tatkraft, der andere von Bescheidenheit besitzt, wie freigebig der dritte ist usf. Denn nichts ist so erquicklich als das Bild von Tugenden, die sich in den Sitten der mit uns Lebenden offenbaren und reichlich unserm Blick sich darbieten.
Diese Mahnung Marc Aurels wurde in zwei Bereichen immer befolgt: in der religiösen Literatur und den Legenden
Weitere Kostenlose Bücher