Wer liest, kommt weiter
aufzuweisen. Die Frage, ob das Vorgeworfene erfüllbar wäre, wird in fast 80 % bejaht.
Warum lerne ich dann nichts aus den Vorwürfen der Partnerin, die mich in vielem besser kennt als ich mich selbst? Weil ich, statt den Vorwurf anzuhören und zu bedenken, mit Gegenvorwürfen antworte oder weil ich, aus Angst, der Verlierer zu sein, auf meinem Standpunkt beharre und so die Chance verpasse, in meiner Entwicklung weiterzukommen. Marie von Ebner-Eschenbach hat also recht: Nichts lernen wir so spät und verlernen wir so früh, als zugeben, daß wir unrecht haben.
Solche Erkenntnisse können wir normalerweise nur aus Büchern oder guten Artikeln gewinnen, wo jemand mit Autorität spricht und wir die Möglichkeit haben, darüber nachzudenken. Ref 69
Hier können wir darüber nachdenken, daß es auch in der erotischen Liebe letztlich auf das ankommt, was in der Nächstenliebe und in der Freundschaft verwirklicht wird, nämlich das Aufeinanderhören, das aufrichtige und herzliche Gespräch, das Wohlwollen, die Bereitschaft zu helfen.
Im Lateinischen heißt Nächstenliebe »caritas«, als Verb dazu wird »diligere« gewählt. Augustinus schreibt in einer Predigt zu dem Satz Gott ist die Liebe aus dem 1. Johannesbrief 4, 8:
Liebe, und tu, was du willst. Dilige [nicht: ama], et quod vis fac.
So schließt sich der Kreis: »diligere« heißt lieben und hochschätzen, nachdem man gelesen und gesammelt (legere) und unterscheidend (»dis-«) ausgewählt hat. Diese Liebe entsteht manchmal, aber keineswegs immer von allein und hat nichts mit Erotik zu tun. Deshalb ist diese Liebe auch eine »Tugend«, die uns weiterbringt, und ein Geschenk für den Mitmenschen.
An dieser Stelle sei noch einmal Wolf Biermann zitiert, der am 21. April 1994 in der Weilheimer Stadthalle den Schülern folgende Worte über die Liebe ans Herz legte:
Daß man in der Liebe glücklich ist, diese kleine Menschenliebe zu einem Exemplar meine ich, ist eine unglaublich politische Qualität. Das habe ich rausgekriegt ... Als ich nämlich in der DDR im Konflikt mit den übermächtigen Herrschenden war, was natürlich über meine Kräfte ging, konnte ich das nur aushalten, wenn ich ruhte in der Liebe zu einem Menschen. Wenn ich das nicht hatte, wenn ich rumgemacht habe mit Weibern, wenn ich rumgeflattert bin, dann war ich aus allen Angeln gehoben. Schärfer formuliert: Man muß in der Liebe ruhen, damit man die Welt bewegen kann. In diesem Sinne – es hört sich komisch an – hat man fast die politisch-moralische Pflicht, in der Liebe glücklich zu sein.
Ausgerechnet Wilhelm Busch, der sich in zahlreichen Bildergeschichten scheinbar über die Tugenden lustig gemacht und alle Bosheiten scheinbar genüßlich geschildert hat, hat im Alter, um 1900, ein ganz erstaunliches und wenig bekanntes Gedicht über die Tugend der Liebe geschrieben.
Dieses Gedicht, das die Liebe als entscheidendes Kriterium für ein geglücktes Leben bezeichnet, steht am Schluß des posthum erschienenen Gedichtbands Schein und Sein (1909).
Es geht hier um das »Buch« unseres Lebens, in dem alles aufgezeichnet wird, das Böse und das Gute, der Haß und die Liebe. Am Ende wird Bilanz gezogen und zusammengerechnet, das Gute wird addiert und das Böse abgezogen bzw. abgeschrieben. Wenn man das liest, fragt man sich, ob alle seine boshaften Bildergeschichten nicht als Kritik an der Bosheit gemeint waren.
Wilhelm Busch (1832-1908): Buch des Lebens
Haß, als minus und vergebens
Wird vom Leben abgeschrieben.
Positiv im Buch des Lebens
Steht verzeichnet nur das Lieben.
Ob ein Minus oder Plus
Uns verblieben, zeigt der Schluß.
Für junge Leute könnte ein solches Gedicht zu altertümlich oder moralisch klingen. Daher noch eine Episode aus Johano Strassers Roman Die schönste Zeit des Lebens (2011) mit einem Rat, den junge Leser um so eher akzeptieren können, als er nicht von ihren Eltern kommt, sondern von einer literarischen Gestalt, dem 19jährigen Robert Markmann, erfragt wurde:
Darf ich Sie etwas fragen?
Natürlich dürfen Sie.
Wie haben Sie herausgefunden, was für Sie das Richtige ist im Leben?
Frau Sternheim zieht die Augenbrauen hoch, schweigt lange, seufzt dann und sagt: Als ich jung war, habe ich getan, was man von mir erwartete. Oder ich habe rebelliert und genau das Gegenteil getan. Das Ergebnis war, wie Sie sich denken können, ziemlich chaotisch. Erst allmählich begriff ich, dass es die Liebe ist, die uns zu uns selber führt: die Liebe zu den Menschen, zu den
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