Wer liest, kommt weiter
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Unser Problem ist freilich, daß der Kapitalismus an zufriedenen und glücklichen Menschen weniger interessiert ist. Wer mit dem zufrieden ist, was er hat, ist ein schlechter Kunde. Wo käme die Firma Apple hin, wenn die Menschen ihre Handys, wie früher die Telefone, sagen wir, 25 Jahre lang behielten?
Auch Leser sind dreifach schlechte Kunden: Lesen kostet wenig oder nichts. Wenn wir lesen, werden wir von keiner Werbung erreicht. Und womöglich lesen wir Seneca, Marc Aurel oder Kunze und denken an das, was man alles – nicht braucht.
Nun ist das Glück nicht nur ein Zustand, zu dem wir nach dem lateinischen Sprichwort, daß jeder seines Glückes (und Unglücks) Schmied sei, selbst einiges beitragen. Es gibt auch ein Glück des Zufalls: Aus dem »Fallen« (lat. cadere, »cadentia«) der Würfel beim Glücksspiel ergeben sich »Chancen«.
In vielen Märchen ist von solchen Glücksgeschenken die Rede, weshalb Kinder sie auch so gern hören wollen.
Hier aber sei an zwei Novellen erinnert, die mit glücklichen Zufällen beginnen, über die man nachdenken kann. Als erstes die Novelle Kleider machen Leute (1874) von Gottfried Keller (1819–1890), die viele von uns in der Schule gelesen haben:
An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut ... Er hatte noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen ... über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, [trug er] einen weiten dunkelgrauen Radmantel, mit schwarzem Samt ausgeschlagen, der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh ... Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhe hinaufging, stieß er auf einen neuen und bequemen Reisewagen, welchen ein herrschaftlicher Kutscher in Basel abgeholt hatte und seinem Herren überbrachte, einem fremden Grafen ... Der Kutscher ging wegen des steilen Weges neben den Pferden, und als er, oben angekommen, den Bock wieder bestieg, fragte er den Schneider, ob er sich nicht in den leeren Wagen setzen wolle. Denn es fing eben an zu regnen und er hatte mit einem Blicke gesehen, daß der Fußgänger sich matt und kümmerlich durch die Welt schlug.
Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden an, worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte und in einer kleinen Stunde stattlich und donnernd durch den Torbogen von Goldach fuhr. Vor dem ersten Gasthofe, zur Waage genannt, hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, und alsogleich zog der Hausknecht so heftig an der Glocke, daß der Draht beinahe entzwei ging. Da stürzten Wirt und Leute herunter und rissen den Schlag auf; Kinder und Nachbaren umringten schon den prächtigen Wagen, neugierig, welch ein Kern sich aus so unerhörter Schale enthülsen werde, und als der verdutzte Schneider endlich hervorsprang in seinem Mantel, blaß und schön und schwermütig zur Erde blickend, schien er ihnen wenigstens ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn zu sein.
Wie ist dieser Aufstieg eines Schneiders zum vermeintlichen Grafen möglich? Die erste Antwort findet sich im ersten Satz: Das arme Schneiderlein ist eine Märchenfigur, dem wir alle gönnen, daß er in Goldach reich werden möge.
Nun aber ist Keller Realist, es muß also einigermaßen glaubwürdig zugehen. Deshalb braucht es den scheinbar hochstaplerischen Radmantel, dann den Zufall mit der Kutsche, vor allem aber braucht es den Kutscher, der mit einem Blick die Bedürftigkeit des Schneiders erkennt. Seine Menschenfreundlichkeit ist so die Voraussetzung für das Glück, das dem armen Schneiderlein am Ende nicht unverdient zufällt.
Wie aber steht es mit dem Glück in Joseph von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826)?
Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: »Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der
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