Wer liest, kommt weiter
sich jeweils die Hälfte nach Wiedervereinigung mit der ihr zugehörigen, und so umarmten und umschlangen sie einander im Verlangen zusammenzuwachsen ... Es ist also seit dieser Zeit der Eros zueinander den Menschen eingepflanzt. Er ist es, der sie zusammenführt und ihre ursprüngliche Natur wiederherstellt.
Das erinnert an die Paradiesgeschichte der Bibel, wo Eva aus Adams Rippe gebildet und von ihm als Fleisch von meinem Fleisch begrüßt wird (sozusagen als »bessere Hälfte«). Und dann heißt es: Darum wird ein Mann ... seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. Auch paßt dies zum biologischen Vorgang der »Meiose«, bei der die genetischen Informationen beim Mann und bei der Frau halbiert werden, damit sie bei der Zeugung zu einem neu kombinierten Ganzen werden können!
Man könnte viele Texte über die Liebe zitieren, die nachdenklich machen wie dieser. Hier die letzte Strophe des Liebeslieds Under der linden von Walther von der Vogelweide mit der Wikipedia-Übersetzung und der Nachdichtung von Hubert Witt: Ref 67
Dass er bei mir lag, / wüsste das jemand / (das wolle Gott nicht!), dann würde ich mich schämen. / Was er mit mir tat, / das soll nie jemand / erfahren, außer er und ich / und ein kleines Vöglein, / tandaradei, / das kann wohl verschwiegen sein.
Daz er bi mir laege,
Und was wir taten
wessez iemen
uns zu lieben
(nu enwelle got!), so schamt ich mich
wüßts wer, o gott, ich schämte mich
Wes er mit mir pflaege,
Wer kann erraten
niemer niemen
was wir trieben
bevinde daz wan er und ich
es sahen doch nur er und ich
Und ein kleines vogellin,
und ein kleines vögelein
tandaradei
tandaradei
daz mac wol getriuwe sin.
das mag wohl verschwiegen sein
Hubert Witt findet oft neue Reime und belebt so die Gedichte neu (Verse in Prosa zu übersetzen ist wie Schmetterlingsflügel bürsten). Das Besondere an diesem Gedicht ist die vielfache Verfremdung: Walther singt als Mann öffentlich ein Lied, das er einem Mädchen in den Mund legt. Er läßt offen, ob vielleicht Herr von der Vogelweide der Liebhaber war. Er singt laut ein Lied über die zur Liebe gehörende Verschwiegenheit, an dessen Ende ein Vöglein Zeuge ist, das nur in der Vogelsprache besingen kann, was auch im Mittelalter »vogelen« hieß.
Vor allem müßte hier Goethe zitiert werden, etwa Die Nacht von 1768 und Willkommen und Abschied (1771), um zu zeigen, wie er durch die Liebe zu Friederike Brion zu einem neuen Ton gefunden und die sogenannte Erlebnislyrik ermöglicht hat.
Man könnte auch Romane erwähnen, bei deren Lektüre wir uns gleich selber verlieben möchten, zum Beispiel die bittersüße Liebesgeschichte zwischen Botho und Lene in Fontanes Irrungen Wirrungen (1888) oder Zeit des Raben, Zeit der Taube (1960) von Gertrud Fussenegger, die zweimal verheiratet, auch lang mit ihrem Dichterkollegen Franz Tumler liiert war, fünf Kinder hatte und über Liebe, Ehe und Ehekatastrophen, Mutterliebe und Kinderleid wahrlich mehr wußte als andere. Ref 68
In diesem Roman über Léon Bloy und Marie Curie, an dessen Anfang vier Seiten lang eine Geburt geschildert wird (Das Kind war ich, Léon Bloy) werden zwei tragische Liebesgeschichten und zwei gelingende Ehen erzählt, während die meisten Romanehen bekanntlich Katastrophen sind. Katastrophen sind ja auch spannender als das Glück. Tolstoi sagt deshalb zu Recht im ersten Satz seiner Anna Karenina:
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.
Können wir auch aus solchen Büchern etwas für unser eigenes Leben lernen? Durchaus. Theodor Storm sagte das so: Die Liebe, welch lieblicher Dunst; doch in der Ehe, da steckt die Kunst.
Das Interessanteste, was ich zu dieser Kunst letzthin gelesen habe, waren die Bücher von Jürg Willi, dem Zürcher Paartherapeuten, der sich als Schüler von Martin Buber betrachtet.
Jürg Willis Bücher wie Psychologie der Liebe (2002) und Wendepunkte im Lebenslauf (2007) bestätigen einen Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach: Wenn zwei brave Menschen über Grundsätze streiten, haben immer beide recht.
Laut Willi treffen etwa 90% der Vorwürfe zu, die Ehepartner einander machen: Partner richten also offenbar aneinander nicht unsinnige, projektiv verzerrte und übertriebene Vorwürfe, sondern sie scheinen in dem, was sie einander vorwerfen, ein hohes Maß an Kompetenz
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