Wer liest, kommt weiter
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Der nächtliche Dialog zwischen den beiden ist allerdings alles andere als liebevoll gewesen, danach jedoch denkt der Behinderte um. So beginnt die Mitmenschlichkeit in Gedanken und will sich dann in Worten und Taten äußern.
Martin Buber (1878–1965), der große jüdische Philosoph, hat ein grundlegendes Buch über das Gespräch geschrieben, das heute noch wichtiger ist als 1923: Ich und Du (1923/1954). Der Mensch hat, so Martin Buber, zwei Grundworte: Ich-Du und Ich-Es. Ich-Es spreche der Mensch zur Welt, Ich-Du sei die Antwort auf sein Beziehungsstreben, also sein Kommunikationsbedürfnis, und nehme beide Menschen als Personen ernst:
Der Mensch wird am Du zum Ich.
Die Gefahr sei jedoch immer gegeben, daß vieles gesagte Du im Grund ein Es ... meint und so ein echter Dialog, ein echtes Gespräch nicht zustande kommt.
Bei einem echten Gespräch komme es darauf an, daß es aufrichtig ist und daß beide auf jeden Gedanken an die eigene Wirkung als Sprecher verzichten.
Diese Erkenntnis von Martin Buber, die der des Aristoteles entspricht, daß der Mensch ein dialogisches Lebewesen ist, erweist sich als der beste Schlüssel zu den drei Hauptmöglichkeiten des Liebens: der Nächstenliebe (griechisch: agápe, lateinisch: caritas), der Freundschaft (philía, amicitia) und der (erotischen) Liebe (eros, amor).
Das Wort Nächstenliebe klingt leider (ähnlich wie »charity« und »charité«) ein wenig altmodisch, betulich und nach moralischer Pflicht. In Wirklichkeit ist das »Gebot« der Nächstenliebe, also der Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit, auch ein »Angebot«, eine Empfehlung für ein glückliches Leben.
Marc Aurel sagt es im 6. Buch seiner Selbstbetrachtungen so:
Paß dich den Situationen an, denen du durch das Los zugewiesen wurdest, und liebe die Menschen, die dir vom Schicksal zugeteilt sind, aber aufrichtig. Ref 63
Diese Maxime Marc Aurels, unter dessen Herrschaft Christen verfolgt wurden, empfiehlt nichts wesentlich anderes als das christliche Liebesgebot. Denn wer sind die Menschen, die uns vom Schicksal per Los zugeteilt wurden? Es sind unsere nächsten Mitmenschen: die Eltern, Geschwister, Mitschüler, Lehrer, Kolleginnen und Kollegen, dann die eigenen Kinder; außerdem die Menschen, denen wir zufällig begegnen. Wenn wir mit den uns nahestehenden Menschen gut auskommen, weil wir zu ihnen und sie zu uns freundlich sind – was können wir uns Besseres wünschen?
Noch kürzer als Marc Aurel hat Antigone in der Tragödie von Sophokles, uraufgeführt 442 v. Christus, den Vorrang der Liebe ausgesprochen: Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. (V. 523) Dies ist eine Ermunterung zur Liebe gemeinsam mit anderen und eine Warnung vor den Kollektiven der Haßerfüllten, die es so oft in der Geschichte gab und überall weiterhin gibt. Haß ist ansteckend, Liebe sollte es auch sein.
Fast 2000 Jahre später schreibt Bertrand Russell (1872-1970) in seinem Buch Warum ich kein Christ bin (1957/1968) im Kapitel Was ich glaube folgendes: Ich kann nicht beweisen, daß meine Ansicht vom guten Leben richtig ist; ich kann nur ... hoffen, daß möglichst viele zustimmen werden. Meine Ansicht lautet:
Das gute Leben ist von Liebe beseelt und vom Wissen geleitet. The good life is one inspired by love and guided by knowledge.
Mit Liebe meint Russell sowohl das reine Wohlgefallen, zum Beispiel an der Kunst, als auch das reine Wohlwollen, den Wunsch nach dem Wohlergehen eines anderen.
Dieser Wunsch aber äußert sich, wenn er mehr sein soll als ein Wunsch, in Worten und Taten. Diese sind nicht immer einfach, und in der Literatur werden öfter mißlingende Begegnungen gezeigt als gelingende. Aber auch erstere sind lehrreich.
Die meisten Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, sind uns vom Schicksal »zugelost« oder, wenn man so will, per Zufall zugefallen (so wie wir uns auch selbst als Kinder des Schicksals oder des Zufalls betrachten können). Ref 64
Unsere Freundinnen und Freunde sowie die Menschen, die wir mehr als »nur« freundschaftlich lieben, können wir jedoch wählen, auch wenn die Bekanntschaften meistens zufällig zustande kommen. Hier ist zunächst kein »Gebot« nötig, weil wir ganz freiwillig und gern lieben. Trotzdem gelingen Freundschaften und Liebesbeziehungen keineswegs automatisch.
Über die Freundschaft haben in der Antike vor allem Aristoteles und Cicero nachgedacht. In der Nikomachischen Ethik widmet Aristoteles ein ganzes Kapitel der Frage, wie viele Freunde man haben
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