Wer liest, kommt weiter
können, wie wir es in der eigenen Sprache könnten. Die nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten sind vielfältig, aber sie können die gesprochene Sprache nicht ersetzen.
Über den sogenannten Spracherwerb gibt es sehr interessante Untersuchungen. Kaiser Friedrich II., der Staufer, soll angeblich ein Experiment mit Babys befohlen haben, um herauszufinden, welche Sprache Kinder sprechen, wenn man nie mit ihnen spricht. Das inhumane Experiment mißlang. Doch wir brauchen kein Experiment, um zu wissen, daß ein Kind nur die Sprache sprechen lernt, in der zu ihm gesprochen wird, und nur die Wörter und die Wortformen lernen kann, die es von den ihm nächsten Erwachsenen, vor allem von der Mutter, im direkten Gespräch gehört hat. Vom Fernsehen lernt das kleine Kind, auch wenn es gebannt hinschaut, nahezu nichts für seine Sprache, weil es sich nicht persönlich angesprochen fühlt.
Deshalb ist es auch von größter Wichtigkeit, daß man mit Kindern möglichst viel spricht, ihnen die sie umgebende Welt mit Worten beschreibt und ihnen Bücher vorliest, wodurch sie allmählich das sprachliche Niveau erreichen, das für das Lesenlernen in der Schule nötig ist. Dafür sind zunächst nur die Eltern verantwortlich und die den Kindern nahestehenden Erwachsenen. Die Kinder lernen so gut sprechen, wie sie es von uns Erwachsenen hören und beim Sprechen mit uns lernen.
Wer liest, lernt besser sprechen
Wie lernen wir sprechen? In Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen (1998) wird erzählt, wie der junge Johann bis zum letzten Satz des Romans in die Sprache hineinwächst: Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.
Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis war Johann nicht allein:
Er ging die Treppe hinauf, oben den dunklen Gang entlang, sah, daß unter der Tür des Vaters noch Licht durchschimmerte, klopfte so leise als möglich an und trat auf Vaters Ja ins Zimmer.
Der Vater hatte drei Kissen im Rücken, saß mehr als er lag und las in einem der gelben Hefte, die mit der Post kamen. ... Er zeigte Johann zwei Wörter in dem Heft, in dem er gerade gelesen hatte. Die kannst du schon, sagte er. Lies einmal. Johann buchstabierte: Rabindranath Tagore. Der Vater hatte in den Büchern und Heften in dem Regal neben seinem Bett einen Vorrat von Wörtern, die, auch wenn Johann sie schon buchstabiert hatte, noch schwer auszusprechen waren. Rabindranath Tagore. Und wenn es Johann schaffte, sagte der Vater: Johann, ich staune. Dann mußte Johann das Wort sagen, ohne ins Heft zu schauen. Du siehst, sagte der Vater, zuerst sehen diese Wörter immer unaussprechbar aus, und dann gehen sie dir ganz von selber über die Lippen. Zuerst wehren sich die Wörter. Dann gar nicht mehr. Da, schau, buchstabier! Johann probierte es. Phi-lo-so-phie. Gut. Und da! Theo-so-phie. Gut, jetzt noch etwas Leichtes, sagte der Vater. Was steht auf diesen Heften? Johann buchstabierte: Der Weg zur Vollendung. Johann, sagte der Vater, jetzt geht’s nach Bettenhausen. Dem Vater fielen fast sofort die Augen zu. Johann drehte den Lichtschalter und schlich sich, weil Josef schon schlief, auf Zehenspitzen in sein Bett.
Was für eine Szene, die der Dichter so schildert, daß wir miterleben und mitfühlen, wie der Vater dem Sohn beim Lesenlernen hilft – die neuen Wörter werden in den sogenannten Wörterbaum gehängt – und wie er ihn lobt: Johann, ich staune! Ref 11
Sechs Jahre später, im April 1938, Johann ist jetzt elf, hört er in der Gaststube einem Gespräch zwischen Herrn Brugger und seiner Mutter zu, die seit Jahresanfang Witwe ist. Es geht um die Volksabstimmung zum »Anschluß« Österreichs:
Johann saß in der Ecke, in die er immer den Ranzen schubste. Heute sah er in sein aufgeschlagenes Buch, ohne darin zu lesen. Die Erwachsenen rechneten damit, daß er las. Herr Brugger würde, was er gerade an die Mutter hinredete, nicht sagen, wenn er sich nicht darauf verlassen könnte, daß Johann seinen Winnetou las. Vergiß nicht, du bist noch nicht einmal achtunddreißig, rief Herr Brugger, du kannst froh sein, daß du diesen Schlappschwanz los bist. Der hätte doch glatt mit Nein gestimmt. Der Polizei hätte man ihn melden müssen, schon lange. Wenn er nicht so eine arme Sau gewesen wäre, hätte man ihn gemeldet. Du hast mit Ja gestimmt, das weiß ich, sagte Herr Brugger, aber er hätte mit Nein gestimmt. Glaub ich nicht, sagte die Mutter viel leiser als Herr Brugger. Daß Österreich wieder dazugehört, wäre ihm recht gewesen, sagte die Mutter, er
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