Wer liest, kommt weiter
ihn uns vor und hören ihn dabei, schreiben ihn auswendig auf und lesen ihn dabei usw. Kurzum: Wer liest, trainiert auch sein Gedächtnis.
Was wir gelesen haben, wird zuerst im Kurzzeitgedächtnis, und wenn es uns wichtig war oder wiederholt wurde, im Langzeitgedächtnis gespeichert, dort, wo auch viele unserer Erlebnisse aufbewahrt sind. Bei bestimmten Gelegenheiten dann erinnern wir uns an sie. Zum Beispiel bei der Lektüre bestimmter Texte. Lesen heißt deshalb oft auch: sich erinnern. Indem man die Erlebnisse anderer liest, erinnert man sich an eigene.
Tankred Dorst, geb. 1925 in Sonneberg in Thüringen, erinnert sich in mehreren Werken an seine Jugend, u.a. in seinem Buch Die Reise nach Stettin, das im Winter 1943/44 in Sonneberg, in Stettin und in Berlin spielt. Der 18jährige Heinrich ist gleich zu Beginn eines Lehrgangs der Marine-HJ öffentlich gemaßregelt und heimgeschickt worden. Um seine Schande zu verbergen, taucht er drei Wochen in Berlin unter: bei seinem Onkel und dessen Lebensgefährtin. Fräulein Zekel entlockt ihm im Park von Sanssouci den Grund für seinen Rausschmiß, den auch wir Leser noch nicht kannten:
Tankred Dorst: Die Reise nach Stettin (1984)
– Was haben Sie denn nun wirklich verbrochen?
– Ich habe, sagt Heinrich, zu einem Bekenntnis entschlossen, als ich nachts auf der Wache stand, gelesen.
– Das war alles?
– An der Front steht da immerhin Todesstrafe drauf. Sehe ich auch ein.
– Sie sind aber kein Soldat.
– Trotzdem.
– Dann waren Sie also nicht fix genug.
– Doch, war ich. Wär ich gewesen! Das ist es ja ... ich hätte das Buch ja schnell wegtun können, als der U. v. D. zur Kontrolle kam. Ich habe ihn ja gehört, als er unten die Treppe raufkam. Und die Taschenlampe habe ich gesehen ... da hätte ich noch massig Zeit gehabt. Aber dann habe ich einfach nicht reagiert. Ich habe das Buch in der Hand behalten. Einfach so. Ich weiß auch nicht, warum. Weiß es einfach nicht. Ref 9
– Dolle Sache!
– Schlimm ist das.
– Schlimm nicht. Doll.
Wenn wir das lesen, erinnern wir uns vielleicht an eigene Erlebnisse, an peinliche Gespräche und an Geständnisse. Lesen ist ja nicht nur ein geistiger Vorgang, was in diesen Kapiteln betont wird, Lesen hat wie das Leben immer auch mit Gefühlen zu tun. Sven Birkerts sagt es in seinen Gutenberg Elegien (1997) so:
Auf jeden Fall tragen wir beim Lesen Leben – letzten Endes unser eigenes Leben – in die Worte hinein. Derart von unserem Erleben zehrend, wird das Lesen zu einem sich kontinuierlich entfaltenden Erinnerungsgeschehen.
Bei solchen Szenen habe ich meine Schüler (und mich selbst) immer daran erinnert, wie folgenreich es ist, wann und wo man geboren wurde. Tankred Dorst kam am Ende des Krieges noch an die Front und mußte nach Krieg und Gefangenschaft (bis 1947) und seiner Flucht aus der »Ostzone« noch einmal ins Gymnasium, wo er erst mit 24 das Abitur machte. Danach studierte er Germanistik in München und begann neben dem Studium Stücke für das studentische Marionettentheater »Das kleine Spiel« in Schwabing zu schreiben, in dem noch heute, 60 Jahre später, zwei Stücke von ihm gespielt werden.
Daß Tankred Dorst ein bedeutender Dramatiker geworden ist, hängt sicher auch damit zusammen, daß er schon als Kind und als Jugendlicher ein großer (und, wie man an dieser Szene sieht, auch kühner) Leser war – seine Dramen über Mittelalter- und Märchenstoffe geben davon Zeugnis – und daß seine Jugend in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg hochdramatisch war.
Das verbindet ihn mit vielen Schriftstellerkollegen der Jahrgänge 1910 bis 1930, zum Beispiel mit Martin Walser, der – wie fast alle bedeutenden Autoren seiner Generation, eine Ausnahme ist Wolfgang Hildesheimer – ebenfalls über seine Kindheit und Jugend geschrieben hat. Ref 10
2. Wer liest, lernt besser sprechen und erzählen
»Logos« heißt, wie oben erwähnt, u.a. Vernunft und Sprache. Wenn wir also sagen, daß beim Lesen der Verstand und das Denken trainiert werden, gilt ebenso, daß beim Lesen die Sprache trainiert und bereichert wird. Das ist fast noch plausibler als das Denktraining. Trotzdem wird dies in den Büchern über das Lesen nur selten ausgesprochen.
Dabei ist es für unser Leben von größter Bedeutung, wie gut wir uns ausdrücken können. Das wird uns vor allem im Ausland bewußt, wenn wir oder andere nach Worten suchen und stammeln und merken, daß wir vieles nicht sagen oder nicht so sagen
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