Wer liest, kommt weiter
dann ein halb realistisches »Remake« der Eichendorff-Novelle, transponiert in eine frühkapitalistische Umgebung. Immerhin läßt Keller seinem Helden ein romantisches Aussehen. Und vielleicht freute er sich beim Schreiben darauf, daß wir beim Lesen seiner Novelle seine Reverenz vor dem größten romantischen Dichter entdecken können?
Solche Glücksmomente können wir beim Lesen oft erfahren. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, was die wenigen Umfragen zum Thema Lesen und Glück ergeben haben.
Im nächsten Kapitel werden im Zusammenhang mit PISA Untersuchungen zitiert, die eine Auswirkung der Lesekompetenz von Schülern auf das spätere Wohlbefinden feststellen.
Aber es gibt auch direkte Untersuchungen über die Bedeutung des Lesens für unser Lebensglück. Elisabeth Noelle-Neumann sprach 1974 zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse.
In dieser Rede mit dem Titel Über die Bemerkung von Proust: "Aber Céleste, man muß lesen!" betonte die Soziologin zunächst, daß das Druckmedium in der Unterhaltungsqualität dem Fernsehen unterlegen ist . Denn das Fernsehen spreche die Sinne unmittelbar an, während die Inhalte in Büchern und Zeitungen erst vom Leser entschlüsselt werden müßten. Weiter sagte sie: Ref 73
Offenbar ist Lesen nicht bequem, anstrengender als Hören und Sehen. Aber in jeder Altersgruppe, jeder Bildungsgruppe, jeder Gruppe, die wir untersuchten, finden wir diejenigen, die Bücher lesen, heiterer als diejenigen, die keine Bücher lesen. Die unter 30jährigen Bücherleser zum Beispiel wirken zu 46% heiter, die Nichtbücherleser nur zu 23%. Unfroh wirken von den Bücherlesern 27%, von den Nichtlesern 50%.... Wir können nicht zweifeln: Bücherlesen bewirkt etwas, was Menschen wohltut.
Und was für das Lesen von Literatur gilt, gilt natürlich auch für das Hören: Vicco von Bülow hielt am 12. Juni 1999 als Dank für den ihm von Weilheimer Schülern zuerkannten Weilheimer Literaturpreis eine Rede an die Jugend und sagte darin über die liebste Freizeitsbeschäftigung der damaligen Jugend u.a. folgendes:
Vor allem sollte immer genügend Zeit zum Fernsehen bleiben. Die Schule neigt dazu, durch überreichliche Hausaufgaben das geregelte Fernsehen zu erschweren. Ihr aber solltet nicht nachlassen, vor allem die Werbung intensiv zu verfolgen, die ja leider alle paar Minuten durch unverständliche Spielfilmteile unterbrochen wird. Dann wißt Ihr, was unser Leben so glücklich macht: nicht Bildung, nicht Kunst und Kultur ... neinnein ... der echte Kokos-Riegel mit Knusperkruste, die sanfte Farbspülung für den Kuschelpullover und der Mittelklassewagen für die ganze glückliche Familie mit Urlaubsgepäck und Platz für ein Nilpferd.
Was war die Reaktion der Jugendlichen unter den mehr als 1200 Zuhörerinnen und Zuhörern in der Weilheimer Hochlandhalle? Sie lachten Tränen und jubelten vor Freude.
Spätestens als sie diese Rede im 48. Weilheimer Heft lasen, dürften sie gemerkt haben, daß Loriot wie alle Satiriker und Humoristen das getan hat, was schon Horaz in der ersten seiner Satiren für sich in Anspruch nimmt, nämlich lachend die Wahrheit zu sagen, ridens dicere verum.
Um eine weitere Wahrheit soll es auch im nächsten Teil gehen, wenn wir uns fragen, warum immer weniger gelesen wird. Ref 74
23. Zweites Fazit mit PISA und Günter Kunert
Warum interessiert sich die »Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung«, die OECD in Paris, für das Lesen? Alle drei Jahre testet sie in vielen Ländern der Erde die Leistungsfähigkeit Hunderttausender von Schülern 9. Klassen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften.
Dieses »Programme for International Student Assessment« [Schülerbewertung], kurz PISA, ist der Schrecken der Schulpolitiker in Deutschland, dem »Volk der Dichter und Denker«, in Österreich und der Schweiz. Denn die Schüler in diesen Ländern schneiden ausgerechnet im Lesen erstaunlich schlecht ab – übrigens auch in den Grundschulen, wo laut der internationalen Vergleichstudie PIRLS bzw. IGLU Deutschland und Österreich 2012 sogar schlechter waren als 2006 (so die Süddeutsche, Die Presse und Der Standard am 12.12.12). Das alles hat Folgen. Dazu drei Zitate aus dem Bericht zu PISA 2009:
Das PISA-Konzept der Lesekompetenz soll dem gesamten Spektrum der Situationen, in denen Menschen lesen, ... Rechnung tragen ... Forschungsarbeiten zeigen, dass diese Arten der Lesekompetenz verlässlichere Prädiktoren [= vorhersagende Faktoren, F.D.] des
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