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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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seine Miene eine Mischung aus Schmerz und Argwohn. Er hatte nicht damit gerechnet, erkannte Clare, dass seine private Trauer zum öffentlichen Thema werden würde.
    »Sind Sie verwitwet?«, erkundigte sich Clare, um das sich ausdehnende Schweigen zu brechen.
    »Nein, ich bin geschieden«, erwiderte Barb Berube. Sie schien erst jetzt Notiz von Clare zu nehmen. »Und Sie sind …?«
    Clare öffnete den Reißverschluss ihres Parkas und enthüllte Priesterkragen und –hemd. »Clare Fergusson von St. Alban’s.«
    Barb musterte Russ noch einmal. Er imitierte nach wie vor eine Salzsäule. Sie fing sich wieder, lächelte Clare an und sagte: »Ich gebe der Direktorin Bescheid, dass Sie hier sind, ja?«
    Sobald sie durch die Tür ins angrenzende Büro verschwunden war, wandte sich Russ an Clare. »Was war denn das?«
    »Was?«
    »Diese … Ruf-mich-an-Nummer. Ich habe sie seit unserem Abschluss vielleicht ein halbes Dutzend Mal im Supermarkt gesehen. Ich bin überrascht.«
    Clare seufzte. »Du bist jetzt Witwer, Russ.«
    Er zuckte zusammen.
    »Du weißt es noch nicht, und du bist auch noch nicht bereit dafür, aber für unverheiratete Frauen eines gewissen Alters bist du neuerdings heiße Ware.«
    Seine erschrockene Miene hätte sie zum Lachen gebracht, wäre sie nicht so herzzerreißend gewesen.
    »Russ! Und, äh, Pastorin? Mrs. Rayburn hat jetzt Zeit für Sie.« Barb Berube lächelte sie mitfühlend an. Russ hielt auf dem Weg durch die Tür weiträumig Abstand.
    Jean Anne Rayburn, die Schuldirektorin von Millers Kill, erhob sich hinter ihrem Schreibtisch, um sie zu begrüßen. Sie war eine hagere Frau, deren schwer zu bändigende, graue Haare und die flauschige Strickjacke im Streit mit ihrer hochgeschlossenen Seidenbluse und dem strengen Rock lagen.
    »Russ Van Alstyne«, sagte sie.
    »Mrs. Rayburn.«
    Sie schüttelte ihm die Hand. »Mein aufrichtiges Beileid. Ich habe Ihre Frau in den Jahren nach Ihrer Rückkehr in die Heimat einige Male getroffen. Sie war reizend.«
    Russ nickte. Er räusperte sich.
    »Ich bin Clare Fergusson.« Clare streckte die Hand aus, und die Direktorin schüttelte sie. »Ich bin die Pastorin von St. Alban’s.«
    Jean Anne Rayburns Augen glitzerten wissend, und Clare fragte sich, was sie in der Gerüchteküche von Millers Kill über sie gehört hatte. Doch die ältere Frau sagte nur: »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Ms. Fergusson.«
    Die Direktorin ließ Clares Hand los und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch, eine Art gewohnheitsmäßiger Geste, die sie einst vermutlich eingesetzt hatte, um die Aufmerksamkeit eines Raums voller Schüler zu gewinnen. »Ich bin dankbar, dass Sie hierhergekommen sind, statt den Jungen ins Revier zu holen. Er war ganz aufgelöst, als er mit mir sprach. Ihm liegt viel daran, dass seine Eltern nichts erfahren.«
    »Das kann ich nicht garantieren«, erwiderte Russ. »Wer ist der Junge?«
    »Quinn Tracey.«
    »Meg Traceys Sohn?« Russ war ehrlich überrascht. »Hm. Ich nehme an, das ergibt Sinn. Wir haben ihn diesen Winter ein paarmal dafür bezahlt, unsere Zufahrt zu räumen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er sich Gedanken darüber macht, ob seine Eltern erfahren, dass er etwas gesehen hat. Seine Mutter hat – hat das Verbrechen gemeldet.«
    »Ich bringe Sie zu ihm, dann können Sie ihn persönlich fragen.« Mrs. Rayburn begleitete sie aus dem Büro. »Wir sind in Mrs. Ovitts Zimmer«, sagte sie zu ihrer Sekretärin, die – Clare sah zweimal hin, um ganz sicherzugehen – frischen Lippenstift aufgelegt hatte, während sie mit der Direktorin gesprochen hatten.
    »Suzanne Ovitt gehört zu unseren Vertrauenslehrern. Wunderbare Frau. Sie hat einen großartigen Draht zu Teenagern.« Mrs. Rayburn klopfte und öffnete eine Tür, die von zwei alten Aktenschränken fast verborgen wurde. »Mrs. Ovitt? Russ« – sie lächelte ihn entschuldigend an – »ich meine, Chief Van Alstyne ist da. Und Reverend Fergusson von der Kirche der Traceys.«
    Würg. Clare beschloss, sie nicht zu korrigieren. Das Büro der Vertrauenslehrerin war hell und fröhlich, mit der Sorte inspirierender Poster dekoriert, die sich häufig in Werkskantinen finden. Auf der einen Seite stand eine Reihe Schreibpulte, die andere Seite war mit einem riesigen Sofa und mehreren Polstersesseln in eine Gesprächsecke verwandelt worden. Wie ihre Möbel machte auch die ungefähr fünfzigjährige Mrs. Ovitt den Eindruck, allem gewachsen zu sein; als könnte sie gleichzeitig Nasen putzen, einen Imbiss

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