Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
Vom Netzwerk:
anzurufen. Ihn wissen zu lassen, dass in ein oder zwei Tagen einer von uns vorbeikommt, um mit ihm zu reden. Ich schätze, seine Angst davor, dass Mom und Dad was rauskriegen könnten, ist größer als seine Angst, auszupacken.«
    »Glaubst du, dass er mehr gesehen hat, als er zugibt?«
    Russ seufzte. »Nein. Vermutlich besteht sein tiefes, schwarzes Geheimnis in einem Sechserpack und einem gefälschten Ausweis. Es ist einfach … ich will einfach, dass es mehr ist.« Er berührte seine Manteltasche, in der er sein kleines Notizbuch aufbewahrte. »Ich will, dass dieses Kennzeichen und die Beschreibung mich direkt zu einem Auto führen, in dessen Kofferraum die Mordwaffe liegt. Das habe ich gemeint, als ich sagte, ich könnte meinen Instinkten nicht trauen.«
    Sie schaltete den Blinker ein und bog auf die Route 57 ab. »Hast du eine Arbeitshypothese? Zum … Verbrechen?«
    »Lyle glaubt, es wäre jemand, der es auf mich abgesehen hatte. Dass meine Frau nur ein zufälliges Ziel war.«
    »Heißt das, du könntest in Gefahr sein?«
    »Ich wünschte, es wäre so. Der Scheißkerl soll nur in meine Nähe kommen.«
    »Über so was macht man keine Witze.«
    »Wer macht Witze?« Er sah ihre Miene und lenkte ein. »Es ist ohnehin nur eine Arbeitshypothese. Ein Mittel, um die Ermittlung zu organisieren. Nach allem, was wir wissen, könnte es auch totaler Bockmist sein.«
    »Bestehen noch andere Möglichkeiten?«
    »Weißt du, was ich wirklich bereue?« Es hatte nichts mit ihrer Frage zu tun, doch plötzlich musste er das loswerden. »All die Male, bei denen ich so wie jetzt Fälle diskutiert habe, ohne jemals etwas dabei zu empfinden. Ich meine, abgesehen davon, dass ich den Täter fassen wollte. All die Gelegenheiten, bei denen ich über das Opfer als Objekt gesprochen habe wie ein Mechaniker, der über einen kaputten Vergaser redet. Für mich gehörte der Mörder oder die Überdosis oder der Autounfall einfach zum Arbeitsalltag. Doch für einen anderen bedeutete er das Ende der Welt.«
    »Russ, du hast gerade deine Frau verloren. Die meisten Menschen in deiner Lage würden Prozac einwerfen und sich durch einen Berg Tempos heulen.« Sie klang leicht aufgebracht, was ihn seltsamerweise aufmunterte. Es war eine Dosis Normalität in einer fremd gewordenen Welt.
    »Ich hätte trotzdem …«
    »Du gehst sehr mitfühlend mit Familien und Opfern um. Ich habe dich schon dabei erlebt. Fang bloß nicht an, ohne jeden Grund zu glauben, du wärst unzulänglich.«
    Er unterdrückte ein Kichern. »Reg dich nicht auf, Schätzchen. Das ist mein Job.« Er lächelte. »Das hat Linda immer zu mir gesagt.« Plötzlich stieg eine schwarze Blase der Trauer in seiner Brust auf, und er schluchzte heiser. Clare nahm eine Hand vom Steuer und streckte sie ihm entgegen. Er umklammerte sie mit knochenzermalmender Kraft, seine Brust hob und senkte sich, während er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
    »Jesus«, stöhnte er, als er wieder sprechen konnte. »Allmächtiger, ich verliere den Verstand.«
    Clare schüttelte den Kopf. Auch ihre Augen waren feucht, ob allerdings aus Mitgefühl oder wegen der Schmerzen, die sein Griff ihr verursacht hatte, konnte er nicht feststellen. Er gab ihre Hand frei.
    »Du verlierst keineswegs den Verstand. Trauer kann jeden von uns kurzfristig verrückt machen. Man liest Kübler-Ross und glaubt, Trauer würde diese erkennbaren Stufen durchlaufen wie in der Schule. Wenn man alle Prüfungen bestanden hat, kann man gehen. Aber von Tag zu Tag, von Moment zu Moment, ist Trauer eher wie …«
    »Den Verstand verlieren?«
    »Ja.«
    Er lehnte seinen Kopf gegen die Kopfstütze und schloss die Augen. Schweigend fuhr sie weiter. Er spürte, wie der Wagen den Hügel hinauffuhr, der sich am Fluss entlang bis in die Stadt zog, spürte das Ziehen der Schwerkraft, als sie den Kreisel umrundeten und anhielten. Wahrscheinlich eine rote Ampel an der Main Street. Er schlug die Augen auf und drehte sich nach hinten, um aus dem Heckfenster zu schauen. Hinter dem kreisrunden Park, in dem der verlassene Pavillon, halb begraben von Schneewehen, wie ein vergessener Traum vom Sommer stand, ragte der eckige Turm von St. Alban’s in den eisfahlen Himmel.
    »Du brauchst keinen Umweg zu machen«, sagte er. »Von hier aus kann ich laufen.«
    Sie schnaubte. Die Ampel sprang um, und sie fuhr weiter die Main Street hinunter.
    »Wann wirst du mir von Gott erzählen?«, fragte er.
    »Von welchem?«
    »Du bist doch Priesterin. Solltest du mir

Weitere Kostenlose Bücher