Wer Mit Schuld Beladen Ist
arme ermordete Frau, oder die Schuld – zu gleichen Teilen Sünde und Komplizenschaft –, die an ihr klebte wie ein feuchtes Kleid. In stillen Momenten, wenn sie durch die Korridore lief, in denen ihre eigenen Schritte sie zu verfolgen schienen, betete sie, tröstliche Routinegebete, die sie schon immer auswendig gekonnt hatte, das Ave-Maria und das Vierundzwanzig-Stunden-Gebet, das Magnifikat und das Gebet des heiligen Hieronymus. Herr, du hast mich erwählt und kennst mich.
Als sie am Ende des Tages zum Pfarrhaus zurückkehrte, fuhr sie durch eine Dunkelheit, die von noch immer schimmernden Weihnachtslichtern und warm leuchtenden Fenstern unterbrochen wurde, hinter denen sich Familien um den Abendbrottisch versammelten. Die hübschen Bilder griffen ihr ans Herz. Für alle heimatlosen Seelen, auf die keine herzliche Umarmung, kein Happy End wartete, waren sie wie Visionen des verlorenen Paradieses. In tiefe Melancholie versunken, bog sie auf den winzigen Parkplatz hinter der Kirche ab und entdeckte, dass noch alle Lichter brannten.
Sie schaute auf die Uhr. Achtzehn Uhr dreißig. Das Dienstagstreffen der Anonymen Alkoholiker begann erst um neunzehn Uhr dreißig, und sie trafen nie vor neunzehn Uhr ein. Sowohl besorgt als auch neugierig, stieg sie aus ihrem Subaru und trat durch die Küchentür ein. Sie bahnte sich den Weg durch die düstere Krypta und erklomm die Treppe. Aus der Halle hörte sie das Summen von Gesprächen. Sie verstaute ihre Reiseausrüstung an ihrem Platz in der Sakristei und folgte den Geräuschen, die aus dem Versammlungsraum zu dringen schienen.
»Da sind Sie ja.«
Sie wirbelte herum. Geoffrey Burns, das jüngste Mitglied des Gemeindevorstands, kam durch die Halle auf sie zu, einen großen Pappbecher mit Kaffee in der Hand. »Wir haben auf Sie gewartet.«
»Wir?«
Er wies mit einem Schulterzucken zum Kapitelsaal, in dem die Komiteesitzungen abgehalten wurden. »Terry McKellan rief mich an. Informierte mich über die Situation. Ich schlug vor, Ihren Beitrag abzuwarten, ehe wir beschließen, wie wir reagieren sollen.«
»Reagieren?« Sie wusste, dass sie wie ein schwachsinniger Papagei klang, doch sie konnte sich einfach nicht vorstellen, auf welche Situation Geoff oder Terry glaubten, reagieren zu müssen.
»Der Tod von Linda Van Alstyne. Hören Sie, kommen Sie erst mal rein und setzen Sie sich. Sie sehen aus wie aufgewärmter Dreck.« Burns, ein kleiner, düster-lebhafter Mann, war nicht eben für seinen Charme berühmt, doch Clare gestattete ihm, sie in den Kapitelsaal zu führen. Normalerweise empfand sie den großzügigen Raum mit seiner Eichentäfelung und den bleigefassten Fenstern als beruhigend. Normalerweise ging sie auch nicht hinein und wurde von Terry McKellan überfallen, der mit Mrs. Marshall und Elizabeth de Groot an dem großen Mahagonitisch saß. Die neue Diakonin sah sie vorwurfsvoll an, als wäre sie ein Hund, den Clare zu lange allein gelassen hatte.
»Elizabeth.« Clare versuchte, sich ihren Mangel an Begeisterung nicht anhören zu lassen. »So spät hatte ich gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet. Ihr Heimweg muss doch ziemlich lang sein.«
»So ist es«, erwiderte Elizabeth, sanften Tadel in der Stimme. »Doch hatte ich gehofft, wir fänden eine Gelegenheit, unser Gespräch zu beenden. Ich habe in der Kirche gewartet, als Mrs. Marshall hereinkam.«
»Clare, Sie haben uns gar nicht mitgeteilt, dass der Bischof uns eine neue Diakonin schickt.« Mrs. Marshall schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es auch erst seit gestern.« Sie blickte von der älteren Frau im tukan-rosa Pullover mit dazu passendem Lippenstift zu Terry McKellan, dessen glänzender brauner Schnurrbart und die übliche braune Tweedjacke ihm das Aussehen eines übergewichtigen Seehunds verliehen. »Ich wünschte, Sie würden mich anrufen, wenn Sie ein Treffen planen.«
»Ich habe früher am Tag mit Lacey gesprochen, doch sie ist auf eigene Faust hierhergekommen«, verteidigte sich Terry, der sich erhob, als Clare Platz nahm. »Doch ich bin natürlich froh, dass wir rechtzeitig gekommen sind, um Mrs. de Groot kennenzulernen.«
»Nennen Sie mich doch Elizabeth.«
Clare hatte plötzlich das Gefühl, eine Figur in einem schlechten Stück von Pirandello zu sein. »Was geht hier vor?«
Plötzliches Schweigen. Die drei Gemeindevorstände musterten ihre neue Diakonin. Sie erwiderte lächelnd ihre Blicke, bis der Groschen fiel. »Ach«, sagte de Groot, »Clare, ich warte in Ihrem Büro.« Sie erhob sich
Weitere Kostenlose Bücher