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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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verziert im italienischen Stil erbaut, war im Renovierungswahn der frühen Fünfziger abgerissen worden, als alles Viktorianische tabu war. Es war durch einen damals hochmodernen Würfel mit Aluminiumverkleidung ersetzt worden, dem das halbe Jahrhundert schweren Adirondack-Wetters nicht gut bekommen war. Von Jahr zu Jahr ähnelte es stärker dem Bauklötzchenhaus eines Riesenkindes, das man zu häufig herumgeworfen und im Regen liegen lassen hatte.
    Russ nahm die Betontreppe, jeweils zwei Stufen auf einmal. Im Inneren ließ die Heizungsluft seine Brille beschlagen und zwang ihn, Mantel und Schal abzulegen. Er lief die Treppe hinauf ins leere Büro der Sekretärin, wo er seine Brille mit dem Hemdzipfel putzte, ihn wieder in die Hose steckte und dann ins Zimmer des Bürgermeisters marschierte.
    Jim Cameron saß nicht an seinem bescheidenen Schreibtisch, sondern an dem rechteckigen Tisch, der eine große Fläche des Zimmers einnahm. Bei ihm befanden sich drei der sechs Ratsmitglieder der Stadt und eine Frau um die dreißig, die Russ noch nie gesehen hatte. Ihm blieb gerade noch Zeit, sich zu fragen, ob die Stadt einen neuen Staatsanwalt hatte, dann stand Jim auf, umklammerte seine Hand und sagte: »Russ.«
    Er klang, als spräche er in einem Grabgewölbe. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir der Tod Ihrer Frau tut. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was Sie durchmachen. Ich weiß, verlöre ich Lena, würde ich …« Während er sprach, schüttelte Jim unentwegt Russ’ Hand. »Wie auch immer, es tut mir leid.«
    »Danke«, knirschte Russ.
    Jim ließ seine Hand los. »Sie kennen Garry Greuling.« Der pensionierte Lehrer, dessen kahler Schädel von seiner jährlichen Reise nach Florida braun gebrannt war, erhob sich und schüttelte Russ mit einer kurzen Beileidsfloskel die Hand. »Ron Tucker.« Ron führte die beste Werkstatt der Stadt, und als er sich über den Tisch beugte, um Russ die Hand zu geben, umwehte ihn ein schwacher Duft von Öl und Benzin. »Das ist Emiley Jensen.« Die unbekannte Frau nickte ihm zu. »Und Bob Miles kennen Sie ja.« Außer der Fremden war Bob Miles, im County zuständig für öffentliche Bauaufträge, als Einziger formell gekleidet. Doch ihr Geschmack war vollkommen unterschiedlich. Bob tendierte zu kostspielig und konservativ. Ihr rosa Tweedblazer war modern, aber billig. Sachen wie diese bezeichnete Linda immer als …
    Er setzte sich.
    Jim Cameron nahm am Kopfende des Tisches Platz. »Russ, wir möchten Sie heute Morgen sprechen, weil wir uns wegen der Ermittlungen in Bezug auf Lindas Tod Sorgen machen.« Er spreizte die Hände auf dem Tisch und enthüllte dabei behaarte Unterarme. Der Bürgermeister arbeitete stets mit hochgekrempelten Ärmeln, als wollte er ständig bereit sein, die Verwaltungsprobleme zu Boden zu ringen. »Sie machen eine furchtbare Zeit durch. Sie sollten zu Hause bei Ihrer Familie sein, Ihren Verlust und Ihre Trauer verarbeiten.«
    »Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen. Doch im Augenblick ist das Einzige, woran ich arbeiten will, der Haftbefehl für den Täter.«
    Cameron warf Garry Greuling einen kurzen Blick zu. Russ konnte sich noch aus seiner Schulzeit an ihn erinnern. Damals war er der supercoole Lehrer für Naturwissenschaften gewesen, dessen Koteletten bis zum Kiefer reichten und der Raumschiff Enterprise als Hausaufgabe auftrug.
    »Russ«, sagte er. »Soweit ich weiß, besagen die Dienstvorschriften, dass jeder Beamte, der eine traumatische Erfahrung durchlitten hat, mindestens eine Woche bei voller Bezahlung vom Dienst suspendiert wird.«
    »Außerdem ist er gehalten, psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen«, ergänzte Bob Miles.
    »Das gilt für ein Ereignis im Dienst, wie zum Beispiel eine Schießerei«, wandte Russ ein.
    »Einen Kriminellen zu erschießen ist traumatischer als die Ermordung der eigenen Frau?« Miles klang ungläubig.
    »Verdammt, könnten wir jetzt mal aufhören, auf Zehenspitzen um den Grund herumzuschleichen, warum wir hier sind?« Ron Tucker besaß eine für einen Mann seiner Statur verblüffend weiche Stimme. »Russ, die ganze Stadt zerreißt sich das Maul über diesen Fall, und die Hälfte davon behauptet, Sie hätten die Hand im Spiel gehabt.«
    »Was?« Einst hatte ihn eine Kugel in der Brust getroffen. Die schusssichere Weste, die er getragen hatte, rettete ihm das Leben, doch angesichts der Gewalt des Einschlags, der ihm die Luft aus den Lungen presste und ihn zu Boden schmetterte, war er überzeugt gewesen,

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