Wer Mit Schuld Beladen Ist
war.
Beagle war eindeutig Gedankenleser, denn er wies mit dem Kopf zur anderen Seite der Kirche, wo eine Frau dicht an der Nordmauer saß. »Debbie Wolecski hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Mrs. Van Alstynes Schwester.«
Clare war einst mit dem Hubschrauber abgestürzt. Sie hatte es überstanden – mit knapper Not –, doch sie hatte nie die beängstigende Zunahme von Problemen vergessen, gefolgt von der Erkenntnis, dass sie im Arsch war. Jetzt hatte sie dasselbe Gefühl.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann«, erwiderte sie. »Ich habe Mrs. Van Alstyne nur ein paarmal gesehen.«
»Aber Sie kennen ihren Mann.«
Sie beschloss, ihm zu trotzen. »Selbstverständlich, Russ und ich sind eng befreundet. Wir essen fast jeden Mittwochmittag zusammen im Kreemy Kakes, wenn uns nicht gerade dringende polizeiliche Angelegenheiten oder seelsorgerische Notfälle dazwischenkommen.«
»Laut Mrs. Van Alstynes Schwester sind Sie mehr als enge Freunde.«
Clare zwang sich zu einem dünnen Lächeln. »Wir leben in einer Kleinstadt, und es wird immer Menschen geben, die unmöglich glauben können, dass ein Mann und eine Frau einfach nur Freunde sind.« Da ihre Albe keine Taschen besaß, glitt sie mit den Händen in die Ärmel und umklammerte ihre Unterarme. Ihre Haut war eiskalt. »Der Polizeichef und ich teilen viele berufliche Interessen. Wir beiden versuchen, dem Wohl der Menschen von Millers Kill zu dienen.«
»Aha … trifft sich der Chief ebenso regelmäßig mit den Geistlichen der Baptisten und Presbyterianer?«
»Äh … das weiß ich wirklich nicht«, antwortete sie aufrichtig.
»Sie wissen, dass Linda Van Alstyne ihren Mann zwei Wochen vor ihrem Tod gebeten hat, das gemeinsame Haus zu verlassen.«
Clare nickte.
»Laut Debbie Wolecski tat sie das, weil Russ Van Alstyne seiner Frau gebeichtet hatte, dass er eine Affäre mit Ihnen hat.«
Clare schloss einen Moment die Augen. »Mr. Beagle …«
»Nennen Sie mich Ben«, bot er munter an.
»Ben, ich weiß nicht genau, was der Chief vor oder nach ihrer Entscheidung, sich zu trennen, zu seiner Frau gesagt hat, doch todsicher nichts von einer Affäre mit mir. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass ein Zitat aus dritter Hand von einem trauernden Familienmitglied, das mit einer Frau sprach, die mitten in einer Krise ihrer zwanzigjährigen Ehe steckte, möglicherweise nicht die zuverlässigste Information der Welt ist?«
»Demnach behaupten Sie, Sie und Russ Van Alstyne hätten nie eine Beziehung gehabt?«
Gott, wie sie das verabscheute. Sagte sie die Wahrheit, warf sie Russ den Wölfen vor; drückte sie sich davor, stellte sie Linda Van Alstyne als eifersüchtige, paranoide Frau hin.
Das war es. Sie konnte die Wahrheit sagen: Dass sie nicht in der Lage war, die Wahrheit zu sagen.
»Alles, was ich im Moment dazu sagen kann, würde ein schlechtes Licht auf Mrs. Van Alstyne werfen und ihrer Schwester Leid zufügen. Das werde ich nicht tun.«
Er nickte. »Wie lange sind Sie schon hier in St. Alban’s?«
»Hm.« Sie hatte angenommen, er würde sie weiter wegen Russ unter Druck setzen. Sein Wechsel zu einem anderen Thema irritierte sie. »Ein wenig mehr als zwei Jahre.«
»Wo waren Sie vorher?«
Sie schnaubte. »Im Seminar. Und davor in der Armee.«
Er grinste. »Interessante Berufswahl.«
»Er hat eher mich gewählt.«
»Aha. Gut. Nun, danke, dass Sie mit mir geredet haben.« In den Tiefen seines Parkas begann ein Handy zu klingeln. »Falls ich noch Fragen habe, rufe ich Sie an.«
Ich werde dafür sorgen, dass ich nicht zu erreichen bin, dachte sie. Beagle kontrollierte die Nummer und wandte sich halb ab, um den Anruf entgegenzunehmen.
Sie lief den Gang zur Sakristei hinauf, begierig, Albe und Stola abzulegen und ins Büro zu gehen, wo die Heizung zumindest gelegentlich einen warmen Luftschwall absonderte. Etwas, das sie nicht zu fassen bekam, prickelte in ihrem Hinterkopf, doch erst, als sie ihre Albe über den Kopf streifte, fiel es ihr ein: Die Frau, die an der Nordwand gesessen hatte, war verschwunden. Sie konnte unmöglich unbemerkt beim Haupteingang an Clare vorbeigeschlüpft sein, was bedeutete, dass sie hinten im Büro oder im Gemeindesaal sein musste.
Vielleicht war Linda Van Alstynes Schwester noch zur Toilette gegangen.
Vielleicht trat gleich der Erzbischof von Canterbury durch die Tür, um ihr zu ihrer guten Arbeit zu gratulieren. Clare hängte die lange weiße Robe auf und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel in der Sakristei – das
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