Wer Mit Schuld Beladen Ist
Haar nach wie vor fest im üblichen Knoten, die Bluse hochgeknöpft bis zu ihrem Priesterkragen, keine erkennbaren Fussel an ihrem langen schwarzen Rock – und schritt durch den Korridor in ihr Büro.
Sie kam nicht besonders weit. Debbie Wolecski stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und funkelte Clare zornig an. Linda Van Alstyne war eine schöne Frau gewesen, und bei ihrer Schwester fanden sich Spuren dieser Schönheit in den großen blauen Augen und dem zarten Knochenbau. Doch das Leben unter der Sonne Floridas hatte Debbie Wolecskis Züge zu Schiffszwieback gedörrt, und die Rundungen, die ihrer Schwester eine gewisse Weichheit verliehen hatten, unbarmherzig ausgelöscht. Clare konnte Debbie Wolecskis Schlüsselbeine erkennen, die sich gegen ihren engen Sweater abzeichneten.
»Ich will mit Ihnen reden«, sagte die Frau.
»In Ordnung.« Clare wies auf die Tür. »Möchten Sie eintreten oder …«
»Wenn Sie nicht wären, würde meine Schwester noch leben.«
Clare starrte sie an.
»Sie haben sich mit ihrem Mann herumgetrieben und ihm lauter Lügen über Linda eingeflüstert, und als es hart auf hart kam, haben Sie ihm ein Ultimatum gestellt, stimmt’s? Sie haben ihm gesagt, entweder Sie oder Linda.«
Clare hatte eigentlich kondolieren wollen, mit einem gemessenen Der Verlust, den Sie erlitten haben, tut mir so leid. Stattdessen ging es mit ihr durch. »Das ist nicht wahr!«
»Sie müssen Nerven wie Drahtseile haben, hier in der Kirche aufzustehen und einen auf heilig zu machen. Sie sind ganz einfach eine billige Ehebrecherin, die anderen Frauen die Männer stiehlt. Sie wollten meinen lieben Schwager? Nun, jetzt haben Sie ihn. Wussten Sie, dass er ein Säufer war? Er hat sich früher jeden Abend bis zur Bewusstlosigkeit betrunken. Und wenn er nicht besoffen war, war er unterwegs, bei irgendeinem Einsatz oder der Arbeit an einem Fall. Hat er Ihnen erzählt, dass meine Schwester drei Fehlgeburten hatte und er bei keiner einzigen da war?«
Clare wurde bleich.
»Das hat er bei Ihren romantischen Einlagen nicht erwähnt, oder? Ich wette, er hat Ihnen auch nicht erzählt, dass er die Armee verließ, weil er einen Nervenzusammenbruch hatte und fast seinen ganzen Zug in den Untergang geführt hätte? Oder dass er meine Schwester in dieses erbärmliche Nest gezerrt hat, weil er so ein Muttersöhnchen war und keinen anständigen Job in Phoenix kriegen konnte?«
Es war, als beutelte sie ein heftiger Sturm. Sie konnte kaum atmen, und ihre Augen tränten.
»Was haben Sie bekommen? Blumen? Schicke Einladungen zum Essen? Liebeswochenenden in teuren Hotels? Wissen Sie, wer dafür bezahlt hat? Meine Schwester! Jeder Penny, den er besitzt, stammt von ihr, aus ihrer Arbeit, dem, was sie von unseren Eltern geerbt hat. Lieber lande ich in der Hölle, als zuzulassen, dass einer von euch es in die Finger bekommt. Tatsächlich werde ich dafür sorgen« – sie trat vor und stach mit einem schimmernd lackierten Fingernagel gegen Clares Brust –, »dass alle erfahren, was für eine Nutte Sie sind. Wir werden schon sehen, wer noch in Ihre Kirche kommt, wenn erst einmal …«
»Halt’s Maul, Debbie.«
Clare blinzelte. Russ stand im Türrahmen des Gemeindesaals, die Fäuste fest in die Taschen seines Parkas gerammt.
Seine Schwägerin sog die Luft ein. »Mein Gott, es stimmt«, rief sie. »Linda ist noch nicht mal unter der Erde, und du kannst die Finger nicht von deiner Freundin lassen.«
Russ’ Stiefel trafen schwer auf den Boden, als er den Korridor entlangging. »Du hast absolut keine verdammte Ahnung, was du da redest.« Er öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. »Ich werde nachsichtig sein, weil du zornig und aufgeregt bist.«
»Zornig? Aufgeregt?« Debbie starrte ihn an, Verachtung malte sich auf ihren stark geschminkten Zügen. »Du Scheißkerl. Ich werde dafür sorgen, dass man dich an den Eiern aufhängt für das, was du meiner Schwester angetan hast.«
»Du kannst tun und lassen, was du willst, wenn ich den Täter erst einmal erwischt habe. Das ist mir egal.« Russ kam auf sie zu. In dem schmalen Korridor schien er noch größer als sonst. »Hast du mich verstanden? Es interessiert mich nicht.«
Sein Blick flackerte kurz zu Clare, so flüchtig, dass sie nicht wusste, ob sie sich das eingebildet hatte.
»Ich habe bereits alles verloren. Du willst mich an den Eiern aufhängen? Prima. Ich besorg das Seil. Aber zuerst sagst du mir, wer Mr. Sandman ist.«
Was, zum Teufel?
»Woher weißt du
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