Wer morgens lacht
es ja auch, mir das einzureden, aber nicht immer.
Vielleicht hat diese kindische Idee, dieses melodramatische Theater, seine folgenschwere Bedeutung erst durch das bekommen, was danach geschah. Eine Woche später wurde Marie krank, schwer krank, sie bekam Meningitis, und unsere Mutter weinte, als sie aus dem Krankenhaus zurückkam und sagte, die Ärzte wissen nicht, ob sie durchkommt.
Es war das erste Mal, dass ich unsere Mutter weinen sah.
Sechs
Wie sehr sich die gefühlte Zeit von der realen Zeit unterscheidet, hatte ich natürlich gewusst, schließlich lernt schon jedes Kind, wie langsam die Zeit vergeht, wenn man zum Beispiel auf die Weihnachtsgeschenke wartet, und wie schnell, wenn einem etwas Unangenehmes bevorsteht, Zeitangaben sagen nicht viel aus. Was waren schon fünf Tage, die man zum Beispiel in Bodenmais verlebte, im Gegensatz zu jenen fünf Tagen damals, die mir ewig dauerten.
Erst am fünften Tag kam unsere Mutter nach Hause, erschöpft und blass vor Erleichterung. Sie ist über den Berg, sagte sie, der Arzt hat gesagt, dass sie über den Berg ist, Marie wird es schaffen, sie wird wieder gesund.
Ich war noch bei den Stegmüllers. Wir, Friedel und ich, waren im Wald gewesen und hatten die ersten Pilze entdeckt, Maipilze, einen ganzen Hexenring, aber wir hatten sie stehen lassen, weil sie noch sehr klein waren, wir hatten jeden Pilz mit zwei, drei trockenen Blättern bedeckt, um sie vor fremden Blicken zu verbergen, und beschlossen, in ein paar Tagen wiederzukommen und sie zu ernten. Otto erzählte gerade, wie er als Kind mit seiner Großmutter mit dem Fahrrad in die Wälder der Umgebung gefahren war, zum Pilzesammeln. Sie kannte jeden Wald, von hier bis nach Dachau und Eichenau, sagte er, sie hat die Pilze förmlich gerochen, sage ich euch, jedenfalls wusste sie immer genau, wo man suchen musste, und vor allem kannte sie sich aus, bei ihr musste keiner Angst haben, mal einen giftigen zu erwischen, sie hat sogar Pilze an ein Hotel in der Stadt verkauft.
Eure Oma war aber auch gut bei Pilzen, der konnte man nichts vormachen, sagte Friedel zu mir, um mich ins Gespräch zu ziehen, und ihre Pilzsuppen waren die besten, die ich je gegessen habe, stimmt doch, Anne, nicht wahr?
Ich nickte. Unsere Omi liebte Pilze, und als sie noch besser laufen konnte, hatte sie uns oft mitgenommen zum Sammeln, das hat sie genossen. Einfach spazieren zu gehen hielt sie für Müßiggang, für verplemperte Zeit, aber im Wald herumzulaufen und mit etwas Essbarem zurückzukommen, war etwas ganz anderes, im Sommer sammelte sie vor allem Beeren und im Herbst Pilze. Ich habe sie immer gern begleitet, lieber, als Marie es getan hat, sie wurde zu schnell ungeduldig. Für mich war das Suchen nach Pilzen wie eine Suche nach verborgenen Schätzen. Ich glaube, schon damals ist mein Interesse an Pilzen entstanden, zumindest an den großen, sichtbaren Fruchtkörpern der Pilze, von dem viel umfangreicheren, nicht sichtbaren Leben der Pilze unter der Erde, dem Myzelgeflecht, hatte ich natürlich noch keine Ahnung. Ich wollte gerade etwas von Omi und den Pilzen erzählen, doch ich kam nicht mehr dazu, es klingelte, und unsere Mutter stand vor der Tür, um mich abzuholen. Sie ist über den Berg, sagte sie, und die Erleichterung war ihr anzusehen. Friedel überfiel sie mit Fragen, aber unsere Mutter winkte erschöpft ab und sagte nur: Komm, Anne, Papa ist nur noch schnell tanken gefahren, dann können wir essen.
Den ganzen Abend ging es nur darum, dass Marie über den Berg war, auch als unser Vater in Bodenmais anrief, um den Großeltern die gute Nachricht mitzuteilen, sagte er mindestens drei-, viermal, Gott sei Dank, sie ist über den Berg. Fast war es, als wären sie in diesen Tagen innerlich so leer geworden, dass ihnen nur noch diese paar Wörter zur Verfügung standen, sie ist über den Berg. Und ich saß still daneben und dachte, eigentlich müsste ich jetzt weinen.
Die Tränen kamen erst später, als ich im Bett lag. Ich weinte und drückte das Gesicht in Maries Plüschhasen, den ich mir von oben geholt hatte, vielleicht weil ich mir von ihm einen Trost erhofft hatte, den er mir nicht geben konnte, natürlich nicht, wer alt genug ist, die eigene Schwester zu verfluchen, ist ganz bestimmt zu alt, um sich von einem Stofftier trösten zu lassen. Ich weinte, bis das Plüschfell nass war von meinen Tränen, dann legte ich den Hasen vor das Bett auf den Boden und weinte weiter.
Diese fünf Tage waren mir wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Weitere Kostenlose Bücher