Wer morgens lacht
Omi, hatte ich einmal gefragt, wie lang ist eine Ewigkeit, weil ich mit diesem Wort, das ich so oft in der Kirche hörte, nichts anfangen konnte, es klang irgendwie drohend, und ich bekam immer eine Gänsehaut, wenn ich es hörte, von nun an bis in Ewigkeit.
Stell dir einen felsigen Berg vor, antwortete Omi damals, einen riesigen Berg, einen Muglberg, so groß, dass man einen ganzen Tag braucht, wenn man um ihn herumgehen will. Und stell dir weiter vor, dass alle hundert Jahre ein kleiner Vogel auf dem Berg landet, kurz seinen Schnabel an den Steinen wetzt, wieder davonfliegt und erst hundert Jahre später wiederkommt. Wenn dieser kleine Vogel mit seinem Schnabel den ganzen Berg abgewetzt hat, ist erst eine Sekunde der Ewigkeit vorbei.
Fünf Tage mit Sekunden, die sich wie Ewigkeiten anfühlten. Ich weiß noch, dass ich mich weigerte, in die Schule zu gehen, und unsere sonst so strenge und pflichtbewusste Mutter rief ohne jede Diskussion im Sekretariat an und entschuldigte mich, Anne fühlt sich nicht wohl, sie muss ein paar Tage zu Hause bleiben, ja, natürlich bekommen Sie noch eine schriftliche Entschuldigung, selbstverständlich, danke, auf Wiederhören.
Weil sie jeden Tag ins Krankenhaus fuhr, wurde ich zu den Stegmüllers geschickt, und als ich mich wehrte, wieso denn, ich kann sehr gut allein zu Hause bleiben, schnauzte sie mich wütend an, ich will nicht, dass du den ganzen Tag allein rumhängst, ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern, es ist alles mit Friedel abgemacht, du gehst rüber und damit basta.
Ich konnte mich nicht wehren, ich hatte kein Recht dazu, ich hatte, meiner Meinung nach, jedes Recht verspielt, falls ich es überhaupt je gehabt hatte, nicht nur für diese fünf Tage, sondern für eine sehr lange Zeit. So lange, bis Marie ihr Recht verspielte, so lange, bis sich mein Unrecht gegen ihres aufrechnen ließ. Ich ging zu den Stegmüllers, geschlagen, ausgesetzt wie ein Waisenkind, das sich selbst zur Waise gemacht hatte, verstoßen und verlassen, allein in einem Gefängnis, das ich mir eigenhändig gebaut hatte.
Friedel nahm ihre Aufgabe ernst, sie ließ mich nicht aus den Augen, sie erstickte mich mit ihrem Mitleid und ihrer Fürsorge. Ich nehme an, sie führte meinen Zustand auf die Angst um meine Schwester zurück, und ich hatte wirklich Angst, auch wenn es eine andere Angst war, als Friedel es sich vorstellen konnte. Ich hatte Angst, für immer die Folgen einer Tat tragen zu müssen, die ich leichtfertig begangen hatte, für ein pathetisches Theater, das ich nicht wirklich ernst gemeint hatte, wie ich mir damals schon einzureden begann, Entschuldigungen und Ausreden zu finden, ist mir noch nie schwergefallen, das konnte ich schon immer gut, so gut, dass ich später oft nicht mehr wusste, was tatsächlich wahr war. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich schuldig war, und wenn ja, wie groß war diese Schuld? Schließlich glaubt doch niemand im Ernst, dass drei Stecknadeln in einem Pappkarton tatsächlich etwas ausrichten.
Armes Kind, sagte Friedel, es ist ganz natürlich, dass du an Marie hängst und mit ihr leidest, und ich sagte hilflos, sie ist doch meine Schwester. Sie nahm mich in den Arm und versuchte, mich zu trösten, es wird alles gut, du wirst schon sehen, Marie wird wieder gesund. Komm jetzt in die Küche, wir müssen uns ums Abendessen kümmern.
Sie erzählte mir auch dauernd von irgendwelchen Leuten, die schwer krank gewesen und wieder gesund geworden waren, vermutlich um mich auf andere Gedanken zu bringen und mir Mut zu machen, und sie ließ sich nicht davon abbringen, obwohl ich die Leute nicht kannte, von denen sie sprach, und sie mich auch nicht interessierten, zum Beispiel ihr Cousin, der eine Lungenentzündung gehabt hatte.
Da war er fünf und keiner hätte mehr einen Pfifferling für sein Leben gegeben, erzählte sie, heute würdest du ihm das nicht mehr ansehen, ein Schrank von einem Mann, verheiratet und mit drei Kindern, hier, schau selbst. Und schon saß sie mit einem Fotoalbum neben mir und zeigte mir erst den kleinen, dünnen Jungen und dann den Mann, den Omi einen Muglmann genannt hätte, ein Mann wie Otto.
Komm, sagte Friedel, wir gehen in den Garten, Unkraut jäten, es ist mal wieder nötig.
Im Gras blühten Gänseblümchen, und ich sah Marie und mich auf einer Wiese sitzen, wir hatten viele Gänseblümchen gepflückt und ritzten mit den Fingernägeln Spalten in die Stängel, in die wir dann die nächsten Stängel schoben. Dichter an
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