Wer morgens lacht
Unsere Mutter saß auf dem Stuhl neben ihrem Bett, so weit vorgebeugt, dass ihre Unterarme auf dem Bett lagen, sie hielt Maries Hand, streichelte sie und murmelte, ach, Marie, und manchmal wischte sie sich über die Augen. Ich sah, dass Marie immer wieder einen schwachen Versuch machte, ihr die Hand zu entziehen, aber es gelang ihr nicht, und daran, dass es ihr nicht gelang, dass sie unsere Mutter nicht anschrie und nicht nach ihr schlug, merkte ich, wie schlecht es ihr wirklich ging.
Ich hatte mich auf den Stuhl am Fenster gesetzt und wagte nur gelegentlich einen Blick auf meine Schwester, sonst saß ich steif da, nur meine Augen bewegten sich dahin und dorthin. An der Wand dem Bett gegenüber hing ein Bild von einem Tänzer oder einem Clown, der auf einem großen Ball balancierte, das ganze Bild war in Blautönen gehalten, auch das Kostüm des Tänzers mit den roten und grünen Rauten sah aus, als wäre es in Blau getaucht worden, sogar sein Gesicht und seine Hände und die nackten Füße waren wie mit einer blauen Lasur überzogen. Er hielt die Arme zur Seite gestreckt, die Ärmel waren hochgerutscht und gaben dünne Handgelenke frei, die blassblauen Finger waren überlang und knochig.
Mir war noch schlecht von der Bratwurst, und ich wagte nicht, mich zu rühren. Auch als meine Muskeln durch diese ungewohnte, verkrampfte Haltung hart wurden und anfingen zu vibrieren, blieb ich still sitzen, ich traute mich ja kaum zu atmen. Ich saß da und wusste nicht, was ich hier sollte, was von mir erwartet wurde. Ich hatte Angst davor gehabt, Marie in die Augen schauen zu müssen, den ganzen Morgen lang hatte ich während des Unterrichts geübt, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, ein Pokerface, und nun stellte sich heraus, dass sie mich gar nicht anschauen wollte, und irgendwie war mir das auch nicht recht. Es hieß doch, dass ich mich ganz umsonst so angestrengt hatte.
Wie lange wir bei ihr waren, weiß ich nicht, doch dann kam endlich eine Schwester herein, rotblond, mit einer Spritze in der Hand, und sagte zu unserer Mutter, wir sollten jetzt lieber gehen, Marie brauche noch viel Ruhe. Mein rechtes Bein war eingeschlafen, ich konnte nicht richtig auftreten, als wir das Zimmer verließen. Marie hatte die Augen auch zum Abschied nicht aufgemacht. Sie sah schrecklich aus, aber wir wussten ja, dass sie über den Berg war, in ein paar Tagen oder nächste Woche würde sie nach Hause kommen. Das Leben geht weiter, sagte unsere Mutter, während ich neben ihr her durch den langen Krankenhausgang zum Aufzug humpelte.
Ich lasse den Bleistift sinken und tauche auf wie aus einer anderen Welt. Meine rechte Hand, meine Schreibhand, ist steif und verkrampft, und ich fühle mich so erschöpft, als wäre ich stundenlang gerannt. Und dann höre ich das Klavier, Isabel übt mal wieder, vielleicht sind es ja diese Klänge gewesen, die mich aus meinen Gedanken an früher ins Hier und Jetzt gezogen haben. Jedenfalls brauche ich dringend eine Pause.
Ich gehe hinüber zur Küche und stelle die Kaffeemaschine an, und während der Kaffee durchläuft, stehe ich am Fenster und schaue hinaus auf die Straße, als wollte ich sichergehen, dass ich nicht in Allach bin. Ich bin in Frankfurt, sage ich mir, ich bin wirklich in Frankfurt, diese Straße gehört zu Frankfurt, und die Häuser auf der anderen Straßenseite sind keine Siedlungshäuser, sondern alte Frankfurter Bürgerhäuser. Es müssen wohlhabende Menschen gewesen sein, die sich solche Häuser bauen ließen, ganz bestimmt keine Flüchtlinge oder Heimatvertriebenen. Statt der Gärten mit Gemüsebeeten und Beerensträuchern gibt es hier nur die drei Linden weiter unten, vor der Anlage, alte Bäume, deren Laub auch in der Sonne grau aussieht, wie die Haare alter Frauen, doch es liegt wohl nicht am Alter, sondern nur am Staub.
Marie blieb damals noch weitere zehn Tage im Krankenhaus, aber die Stimmung bei uns zu Hause hatte sich geändert, die Erleichterung war deutlich fühlbar. Und ich schlich mich jeden Abend, wenn unsere Eltern schliefen, hinauf in Maries Zimmer, legte mich auf ihr Bett und stellte mir vor, wie es ihr jetzt ging. Ich schlüpfte in ihre Rolle, Abend für Abend. Ich lag in einem weißen Bett, in einem weißen Zimmer, und weinte, und eine rotblonde Schwester brachte mir ein Tablett mit Brot und Tee und sagte, ich solle nicht so viel nachdenken, das sei nicht gut für mich. Wenn ich die Augen aufmachte, sah ich den Tänzer an der Wand gegenüber, mit gegrätschten Beinen und
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