Wer morgens lacht
der Blüte, mahnte Marie, sonst sieht das nach nichts aus. Drei Kränze flochten wir, für jede von uns einen und den dritten für Omi. Dann liefen wir nach Hause, setzten ihr das Kränzchen auf den Kopf und drehten uns vor ihr im Kreis und sangen, schaut doch her, schaut alle her, seht, wie schön wir sind.
Abends ging ich nach Hause, zu meinen Eltern, die kaum sprachen, es war, als wären alle Wörter verboten, die nichts mit Marie zu tun hatten. Ich wunderte mich über unsere Mutter, so besorgt hatte ich sie noch nie erlebt. Wenn wir früher krank gewesen waren, war sie zur Arbeit gegangen und hatte unsere Pflege Omi überlassen, sie hatte höchstens in der Mittagspause mal angerufen. Jetzt arbeitete sie nur vormittags, mittags fuhr sie zu Marie und blieb bis abends bei ihr, auch unser Vater fuhr jeden Abend zuerst zu Marie, bevor er nach Hause kam. Es gab mir einen Stich, unsere Mutter so zu sehen, und ich fragte mich ganz automatisch, ob sie sich ebensolche Sorgen gemacht hätte, wenn ich krank gewesen wäre. Es war ein hässlicher Gedanke, den ich sofort verdrängte, auch das konnte ich schon immer sehr gut, verdrängen. Bei unserem Vater brauchte ich mir diese Frage nicht zu stellen, da war klar, dass es ihm immer nur um Marie gehen würde, dennoch erstaunte mich die Wucht seines Kummers. Man merkte es daran, dass er abends schweigend am Tisch saß, breitbeinig und mit breit aufgestützten Ellenbogen, und nicht nur einen Whiskey trank, sondern mehrere, um seinen Kummer zu ersäufen, wie ich dachte. Unsere Mutter, sonst schnell bei der Hand, wenn es darum ging, ihren Unmut auszudrücken, war in jenen Tagen erstaunlich nachsichtig, sie warf ihm nur manchmal einen Blick zu, verkniff sich aber jede vorwurfsvolle Bemerkung.
Und ich? Natürlich fühlte ich mich schuldig, und ich konnte mit niemandem darüber sprechen, mit wem auch, keinesfalls mit unseren Eltern, bei ihrem Anblick wuchs meine Schuld erst recht, wurde zu einem Berg, der mich zu erdrücken drohte.
Und eine richtige Freundin, der ich mich vielleicht hätte anvertrauen können, hatte ich nicht. Und Friedel? Um Gottes willen, nein, sie hätte mir mitleidig zugehört, aber dann hätte es bald ganz Allach gewusst. Ich war sogar mehrmals drauf und dran, zur Kirche zu gehen, schließlich hatte Omi die Beichte immer als große Gnade bezeichnet, aber am Schluss verwarf ich diesen Gedanken, selbst wenn es mir überhaupt erlaubt gewesen wäre zu beichten, hätte mich wohl meine Scham davon abgehalten. Doch es ging ja sowieso nicht, diese Gnade stand mir nicht zu, ich war ja noch nicht mal getauft. Und das Gefühl, Schuld auf mich geladen zu haben, hielt mich in diesen ersten fünf Tagen von Maries Krankheit sogar davon ab, zu Omis Grab zu gehen, was ich sonst alle zwei, drei Tage getan hatte. Nach Maries Krankheit wurden meine Besuche bei Omi allerdings immer seltener, ich ging nur noch einmal in der Woche zum Friedhof und selbst das vergaß ich manchmal.
Sie ist über den Berg, sagte unsere Mutter am fünften Tag, morgen darfst du sie besuchen, Anne, morgen darfst du mitkommen.
Am Tag darauf ging ich wieder zur Schule, mit einer schriftlichen Entschuldigung, ich sei krank gewesen, und irgendwie stimmte es ja auch, eine richtige Lüge war es jedenfalls nicht, höchstens eine ganz kleine, unbedeutende. Es kam mir vor, als wären inzwischen Monate vergangen, nicht nur fünf Tage, so fremd fühlte ich mich in der Schule und so fremd fühlte ich mich auch zwischen meinen Mitschülern, sogar an den Unterricht musste ich mich erst wieder gewöhnen, das Aufpassen fiel mir schwer. In der Pause stand ich allein in einer Ecke, aber das war nichts Besonderes, und nach der sechsten Stunde wartete unsere Mutter mit dem Auto auf mich, um mit mir ins Krankenhaus zu fahren. Unterwegs hielten wir an einem Kiosk und aßen eine Bratwurst, die mir nicht schmeckte, aber vermutlich hätte mir auch nichts anderes geschmeckt.
Marie lag in einem weißen Bett und war selbst so weiß wie das Laken, so weiß wie ihre Zudecke, so weiß wie ihr Krankenhausnachthemd, sogar ihre Lippen waren fast weiß, nur ihre braunen Haare und die noch dunkleren Augenbrauen hoben sich gegen das viele Weiß ab, sie sahen aus wie gezeichnet und erinnerten mich an die chinesischen Tuschbilder, die uns der Lehrer im Kunstunterricht gezeigt hatte. Sie lag nur da, mit geschlossenen Augen, und sagte nichts, auch als wir sie begrüßten, hatte sie nur kurz die Augen geöffnet und gleich wieder zugemacht.
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