Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Schreibtisch, den unser Vater für mich gezimmert hatte, weil Marie den großen Schreibtisch nicht hatte hergeben wollen, obwohl er, meiner Meinung nach, eigentlich mir zugestanden hätte. Schließlich war ich die bessere Schülerin, ich besuchte das Gymnasium und arbeitete viel mehr als sie, nie ging ich morgens aus dem Haus, ohne meine Aufgaben gemacht zu haben, während sie nur sehr selten am Schreibtisch saß. Aber niemand war bereit, meinen Anspruch anzuerkennen.
    Und genau genommen ging es nicht nur um den Schreibtisch, Marie hatte nach Omis Tod ja schon das große Zimmer oben behalten dürfen, trotz meiner Proteste. So war es immer, sie bekam, was sie wollte, sie bestand einfach stur darauf und ließ sich weder durch Bitten noch durch Schimpfen davon abbringen. Ich hatte das obere Zimmer nicht bekommen, ich hatte den Schreibtisch nicht bekommen, damit musste ich mich abfinden, aber vergessen habe ich es nie. Bis heute achte ich darauf, einen großen Schreibtisch zu haben, er muss nicht teuer sein, Hauptsache, er ist größer als jener, der mir damals verweigert worden war. Mein jetziger zum Beispiel besteht aus einer großen, beschichteten Platte, die ich auf zwei Böcke aus dem Baumarkt montiert habe, er ist daher nichts Besonderes, aber ich bin stolz auf ihn.
    Ich saß also an meinem kleinen Schreibtisch, und vor mir lag das Kartonstück, auf das ich eine Puppe malte, nur die Umrisse, Kopf, Rumpf, Arme, Beine, ohne Hände und Füße und ohne Gesicht, keine Ahnung, warum nicht, es ging mir vermutlich doch zu weit, eine Ähnlichkeit anzustreben, vielleicht fürchtete ich ja auch, jemand könnte die Puppe entdecken und erraten, was ich vorhatte. Die Puppe malte ich lila aus, glitzernd lila, den Hintergrund glitzernd schwarz, mit gelben, gezackten Blitzen. Dann holte ich drei Stecknadeln aus Omis Nähtischchen, das seit ihrem Tod in unserem Wohnzimmer stand und auf das ich manchmal einen Blumenstrauß stellte, weil an der Wand darüber ein Foto von ihr hing. Die Stecknadeln hatten farbige Köpfe, einer war rot, der zweite gelb und der dritte grün. Ich hatte sie sorgfältig ausgewählt, sie symbolisierten für mich Zorn, Erkenntnis und giftgrüne Galle, auch da weiß ich nur noch die Bedeutung der Farben, nicht mehr, wie ich darauf gekommen war, doch ich hatte die Wörter so oft gedacht, Zorn, Erkenntnis und giftgrüne Galle, dass diese Farben für mich bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben.
    Viele Tage lang lagen die Zeichnung und die Nadeln in meinem Schrank unter den Schlafanzügen, vielleicht sogar wochenlang, weil ich mir einbildete, auf eine Vollmondnacht warten zu müssen, Vollmond hatte etwas Magisches, bei Vollmond war alles möglich. Und als er endlich da war, saß ich im Bett und lauschte, bis unser Vater und unsere Mutter nebenan im Wohnzimmer den Fernseher ausgemacht hatten und die Treppe hinaufgegangen waren, zu ihrem Schlafzimmer, und ich wartete auch noch, bis Marie nach Hause gekommen war, da war es schon bald Mitternacht. Erst dann stand ich auf und schaute aus dem Fenster. Der Mond war von dunklen Wolken verdeckt, nur eine helle, verschwommene Scheibe ließ erkennen, wo er sich befand, er sah aus wie eine Glühbirne, vor die man eine graue Decke gehängt hatte, aber er war da, auf dem Kalender in der Küche war er eingezeichnet, Vollmond.
    Nun war es so weit. Ich legte Omis schwarzes Tuch auf meinen Schreibtisch, zündete eine Kerze an, holte das Bild und die Nadeln aus meinem Schrank und legte sie auf das Tuch. Ich weiß noch, wie feierlich mir zumute war, feierlich und ein bisschen unheimlich, und als ich das Fenster aufmachte, damit mein Wunsch frei zum Himmel fliegen könnte, tanzten flackernde Schatten über die Wände. Dann hielt ich die erste Stecknadel in der Hand, die rote, starrte sie an und zögerte lange, bis ich sie mit einer schnellen, heftigen Bewegung in die Puppe stach, dahin, wo sich das Herz befinden musste, und sagte: Ich will, dass du stirbst. Bei den beiden nächsten Nadeln zögerte ich nicht mehr, ich will, dass du stirbst, ich will, dass du stirbst.
    Natürlich sprach ich die Worte nicht laut aus, ich flüsterte sie nur leise vor mich hin, und trotzdem dröhnten sie in meinen Ohren, und ich hatte das Gefühl, sie würden mir das Trommelfell zerfetzen. Panik ergriff mich. Ich riss den Schrank auf, schob die Puppe hinein, drückte die Tür wieder zu, blies die Kerze aus und schlüpfte unter meine Decke. Aber an Einschlafen war nicht zu denken, ich konnte den Blick

Weitere Kostenlose Bücher