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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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abgeknickten Knien balancierte er auf einem Ball. Lange Hände hatte er, mein Traumtänzer, und streckte mir seine knochigen Finger entgegen. Ich wollte ihn nicht sehen, ihn nicht, niemanden, ich wollte zurückfallen in meine traumlose Dunkelheit. Weiche Hände streichelten über mein Gesicht, irgendwann musste mich jemand so gestreichelt haben. Wenn ich mich nur erinnern könnte.
    Die Vorhänge waren pastellfarben gestreift, und wenn die Sonne schien, warfen sie blassbunte Streifen an die Wände, Streifen, die sich sogar über den blauen Tänzer legten, und wenn ein Windhauch die Vorhänge bewegte, bewegte er sich mit ihnen. Nur wenn es draußen dunkel war und das Deckenlicht brannte, erkannte man die eigentlichen Vorhangfarben, Beige, ein verwaschenes Braun, dazwischen Streifen in einem fahlen Blaugrau wie von der Sonne gebleichter Schiefer. Das Licht tat mir weh, ich drückte auf den Klingelknopf, ich konnte es kaum aushalten, bis die Schwester kam, in meinem Kopf zerplatzten rote und gelbe Feuerwerkskörper. Das Gesicht mit den Sommersprossen beugte sich über mich, hast du Schmerzen? Ich spürte den Einstich kaum, ich starrte den Tänzer an. Er streckte die Hände nach mir aus, komm, Schwesterlein, komm, tanz mit mir, beide Hände reich ich dir, sang er. Ich wollte nicht kommen, ich wollte ihn nicht sehen, warum ließ er mich nicht in Ruhe, ich wollte doch nur in die gnädige Dunkelheit zurückfallen. Seine Hände streichelten mich, komm, drängte er mit dieser lockenden Stimme, komm, tanz mit mir, rundherum, das ist nicht schwer, und die Krankenschwester mit den rotblonden Haaren lächelte mich an.
    Plötzlich werde ich geschüttelt, ich spüre Hände an meinen Schultern und bin wieder hier, in Frankfurt. Was ist mit dir, Anne, he, wach auf, du träumst ja mit offenen Augen, du hast gar nicht gehört, dass ich reingekommen bin.
    Es ist nicht die Schwester, die mich anlächelt, natürlich nicht, es ist Ricki, he, Anne, was ist mit dir? Du hast doch was. Sie nimmt mich in die Arme, streichelt mir über den Kopf und über die Wangen, und ihre Hände sind tatsächlich weich, überraschend weich. Willst du darüber sprechen?, fragt sie.
    Ich schüttle den Kopf. Nein, sage ich, und dann, als ich ihren mitfühlenden Blick sehe, nein, noch nicht, vielleicht später mal.
    Gut, sagt sie, dann habe ich einen Vorschlag. Wir machen uns einen schönen Abend, wir essen unterwegs einen Döner und gehen anschließend ins Kino, du brauchst ein bisschen Ablenkung, da gibt es nichts Besseres als Kino. Los, zieh dich an. Und außerdem solltest du wirklich ein bisschen mehr essen, du wirst immer dünner.
    Ich zwinge mich zu einem Lächeln, auch wenn es vermutlich ein bisschen schief ausfällt. Hör auf, sage ich, du redest schon wie meine Mutter, gleich wirst du mir noch Hasenbraten anbieten.
    Döner, sagt Ricki, nur Döner.
    Und der Kaffee, den ich gerade gemacht habe?
    Lass doch den blöden Kaffee.
    Während ich mich anziehe, ich habe den ganzen Tag im Schlafanzug am Schreibtisch gesessen, merke ich, dass ich Hunger habe, großen Hunger, ich habe wirklich vergessen zu essen, und mit Ricki ins Kino zu gehen, ist das Beste, was mir heute passieren kann, ein schönes Ende für einen schweren Tag.
    Jedenfalls ein besseres Ende als in meinen abendlichen Tagträumen in Maries Bett. Damals ist am Ende immer Marie aufgetaucht, so deutlich, als hätte sie wirklich die Tür aufgemacht, sie hat vor dem Bett gestanden, auf mich herabgeschaut und gesagt, verdammt, Anne, das sind meine Erinnerungen, nicht deine, lass dir ja nicht einfallen, mir meine Erinnerungen zu klauen.
    Abend für Abend war das so, Abend für Abend ist sie vor mir aufgetaucht und Abend für Abend schlich ich gedemütigt wieder hinunter in mein Zimmer.

Sieben
    Es stimmt, dass man Erinnerungen nicht trauen kann, aber es gibt noch etwas, was mir jetzt klar wird, sie kommen auch ungerufen und halten sich an keinerlei zeitliche Abfolgen, sie tauchen plötzlich auf und drängen sich ungefragt an die falschen Stellen, so wie sich mir jetzt die Erinnerung an Omis Tod aufdrängt.
    Das liegt vielleicht daran, dass ich gestern Abend, als ich mit Ricki unterwegs war, im Dönerimbiss einen Mann am Nachbartisch beobachtete, der mit knotigen Rheumafingern eine Portion Döner mit Pommes aß. Ich musste immer wieder hinschauen, ich kannte den leidenden Gesichtsausdruck, die scharfen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, ich hätte die Hände gar nicht gebraucht, um Bescheid zu

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