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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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fing Marie schon an, oft erst gegen Abend nach Hause zu kommen, sie war offenbar lieber mit anderen zusammen als mit uns, hier halte ich es nicht aus, sagte sie, und wenn ich sie fragte, wohin sie eigentlich gehe, bekam ich keine Antwort oder sie sagte kühl, das geht dich einen Dreck an.
    An guten Tagen saß Omi in der Küche und gab mir Anweisungen für eine Gemüsesuppe oder sogar für Gulasch oder Knedlich . Ich war hin- und hergerissen zwischen Stolz und Verzweiflung, Stolz darauf, dass ich ihr beweisen konnte, wie nützlich ich war, und dass sie mich wie eine Große behandelte, und Verzweiflung, weil ich gehört hatte, wie unsere Mutter, als sie nicht merkte, dass ich zuhörte, zu unserem Vater gesagt hatte, es wird nicht mehr lange gehen mit ihr, wir müssen uns darauf gefasst machen. Ich hatte verstanden, was sie damit meinte, auch wenn Omi nicht direkt genannt wurde.
    Ich kümmerte mich um Omi, ich brachte ihr alles, was sie wollte, ich las ihr die Zeitung vor, immer nur den Altöttinger Liebfrauenboten, das war das Einzige, was sie interessierte, ich habe sie nie etwas anderes lesen gesehen, und wenn sie nun den Rosenkranz betete, den schmerzhaften, hörte es sich für mich nicht mehr so tröstlich an wie früher. Und manchmal fühlte ich mich vollkommen hilflos, nämlich dann, wenn sie von dahaam anfing und mich für ihre Mutter hielt, dann sagte sie etwas in ihrer Sprache, sodass ich nicht alles verstand und nicht wusste, was ich machen sollte, aber zum Glück dauerten diese Zustände nie sehr lange, dann lächelte sie und war wieder meine Omi, deshalb sagte ich auch meinen Eltern nichts davon.
    Es gab etwas, was wir beide genossen, das war das gemeinsame Fernsehen. Ich half ihr ins Wohnzimmer und brachte ihr den breiten Schal aus Chenille mit den Troddeln an einer Seite, den sie sich immer um die Schultern hängte, und wenn ich dann neben ihr saß, schob sie den Schal auch über mich und wir saßen wie in einem Zelt, in einem eigenen Kokon, in dem wir uns aneinanderkuschelten, eingehüllt von ihrem Schal und ihrer Wärme und ihrem Geruch nach Kampfer und Franzbranntwein. Diese Stunden gehören zu meinen schönsten Erinnerungen, es war so heimelig, so vertraut, dann war ich glücklich und wünschte mir, es würde bis in alle Ewigkeit so weitergehen. In den Stunden, die wir gemeinsam vor dem Fernseher verbrachten, vergaß ich meine Angst.
    Nachmittags, wenn wir allein waren, wenn unsere Eltern noch bei der Arbeit waren und Marie wieder mal irgendwo anders, sahen Omi und ich uns Kindersendungen oder Tierfilme an, abends mochte sie am liebsten Aktenzeichen XY und Videos wie Miss Marple . Wenn unsere Eltern mit ihrer Arbeit fertig waren, unsere Mutter mit dem Haushalt und unser Vater mit seinen Hasen, kamen sie auch manchmal ins Wohnzimmer, um noch ein bisschen fernzusehen, und sogar dann kroch ich zu Omi unter den Schal, trotz der spöttischen Blicke unserer Mutter und ihrem »du und deine Omi«, mit dem sie damals schon anfing. Wenn wir zusammen vor dem Fernseher saßen, dachte ich nicht mehr daran, dass wir uns gefasst machen mussten.
    Ein halbes Jahr nach dem Umzug in unser früheres Zimmer ist Omi gestorben, versehen mit den Sterbesakramenten, und ich sah zum ersten Mal einen toten Menschen. Aber ich geriet nicht in Panik, ich stand an ihrem Bett, scheu und erschrocken, und trotzdem hatte ich das Gefühl, sie wäre einfach eingeschlafen, so sah sie aus, und auch ihre Hände waren noch warm. Doch dann wurde sie von fremden Männern abgeholt, den Bestattern, wie unsere Mutter sagte, und erst als ich sah, wie sie im Sarg aus dem Haus getragen wurde, fing ich langsam an zu begreifen, obwohl ich glaube, dass mir die Endgültigkeit des Todes erst später klar wurde.
    Zu ihrer Beerdigung trug ich rote Schuhe, ich hatte sie erst ein paar Wochen zuvor von Omi zum Namenstag bekommen, sie waren also immer noch ziemlich neu, und ich dachte, ich habe neue Schuhe und eine tote Omi, und unwillkürlich fragte ich mich, ob sie, wenn ich keine neuen roten Schuhe hätte, vielleicht noch leben würde. Meinst du nicht, wir sollten ihr noch ein paar andere Schuhe kaufen, hatte unser Vater gesagt, rot zur Beerdigung, was werden die Leute sagen, aber unsere Mutter hatte widersprochen, ach, hör doch auf, wir brauchen das Geld jetzt dringender, so eine Beerdigung ist schließlich teuer, und sie ist erst zehn, bei einer Zehnjährigen ist es wirklich egal, welche Schuhe sie zur Beerdigung trägt.
    Rote Schuhe hatte ich an, als wir

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