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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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meinem Rücken Streberin genannt wurde, aber das kümmerte mich nicht, das war mir egal, es sicherte den Abstand zwischen mir und den anderen, die mich zwar manchmal brauchten, zum Abschreiben oder um sich etwas erklären zu lassen, mir ansonsten aber nichts taten. Eine Fete? Aber Anne doch nicht, die brauchst du gar nicht einzuladen, vergiss es, die kommt sowieso nie, nein, die macht auch keinen Blödsinn, die doch nicht.
    An jenem Morgen war das Wetter gut gewesen, es versprach, ein schöner Tag zu werden, ich hatte Maries Rad genommen, um zur Schule zu fahren, leihweise, wie ich unserer Mutter versprach, nur bis Marie zurückkommt, natürlich gehört das Fahrrad ihr, das weiß ich doch, aber als ich nach Hause fuhr, fing es an zu regnen, und ich war klatschnass, als ich daheim ankam. Die rote Jacke hing natürlich noch am Haken. Unser Vater war nicht da, das hatte ich auch nicht erwartet, seit Maries Verschwinden war er tagsüber nie zu Hause, vermutlich suchte er die Stadt nach seiner Tochter ab, obwohl er das nicht sagte, aber ich fragte ihn auch nicht danach.
    Ich aß in der Küche ein Käsebrot und trank ein Glas Milch, dann ging ich hinauf in Maries Zimmer, das, obwohl ich es jeden Tag lüftete, noch immer nach Räucherstäbchen roch. Ich ging fast jeden Mittag hinauf, nach der Schule, ohne dass ich dafür einen wirklichen Grund hätte angeben können, es war nur ein verschwommenes Gefühl, als könnte ich damit die Nähe zu ihr wiederfinden, die wir früher, als wir noch Kinder waren, doch gehabt hatten.
    Ich machte ihren MP3-Player an und legte mich auf ihr Bett, vielleicht war das ebenfalls ein Versuch, ihr nahe zu sein. Manche Musikstücke, die sie geladen hatte, waren mir zu schnell und zu laut, doch sie hatte seltsamerweise auch viele Lieder heruntergeladen, und manche Texte verblüfften mich, sie schienen so genau zu mir zu passen, als hätte Marie alles vorausgesehen und die Lieder für mich ausgesucht. Eines war von der Gruppe Silbermond. Darin hieß es: Ich krieg dich nich’ aus meinem Kopf und dabei will ich doch. Ich krieg dich nich’ aus meinem Kopf und dabei muss ich doch.
    Ein anderes Lied, das mich ganz kirre machte, stammte von Wir sind Helden, das hatte ich schon ein paarmal im Radio gehört, ich wusste sogar den Namen der Sängerin, Judith Holofernes, ein Lied, das für mich jetzt eine ganz neue Bedeutung bekam, als wäre es nur für mich geschrieben worden.
    Die Zeit heilt alle Wunder,
wenn du sie gut verschnürst.
Bind nur die Stelle gut ab,
bis du es gar nicht mehr spürst.
Du weißt, ein Feuer geht aus,
wenn du es länger nicht schürst,
und du weißt, dass du besser
an alte Wunder nicht rührst.
    Ich lag also auf ihrem Bett, das sie seit beinahe drei Wochen nicht mehr benutzt hatte und vielleicht nie mehr benutzen würde, und dachte, wer weiß, ob sie es überhaupt noch benutzen könnte, selbst wenn sie es wollte, schließlich kennt man genug Schauergeschichten, und Marie ist leichtsinnig und unvorsichtig, das ist sie immer gewesen, ihr konnte alles Mögliche passiert sein. Vielleicht hat irgendein brutaler Kerl sie abgeschleppt und hält sie in seiner Jagdhütte mitten im Wald gefangen, als Spielzeug für seine perversen Neigungen.
    Und plötzlich sehe ich eine dämmrige Blockhütte vor mir, nur durch ein hohes Fenster fällt Licht herein, genug, um ein Bett zu erkennen. Auf dem Bett liegt Marie, beide Arme seitlich nach oben gestreckt, wie gekreuzigt, und ist mit Stricken an die Bettpfosten gefesselt, sie trägt nur ein ärmelloses T-Shirt, das ihren Oberkörper bedeckt, ich sehe die blauen Flecken an ihren Armen und Beinen. Sie ist allein, der Kerl ist morgens weggefahren, wie jeden Tag, um in irgendeinem Büro oder in einer Bank unauffällig seiner Arbeit nachzugehen, aber sie weiß, dass er am Nachmittag zurückkommen wird. Sie hat Durst, sie hat Hunger, aber das kann sie aushalten, doch dann muss sie pinkeln, ich sehe, wie sie sich verkrampft und abwechselnd die Beine bewegt, wie ein kleines Mädchen, das von einem Fuß auf den anderen tritt, wenn der Drang zu groß wird, ich sehe, wie sie das Gesicht verzieht, wie sie sich auf die Lippe beißt und wie ihr am Schluss nichts anderes übrig bleibt, als den Unterkörper zur Seite zu schieben, bis über den Bettrand hinaus, und auf den Boden zu pinkeln, mehr Bewegungsfreiheit hat sie nicht.
    Wenn er kommt, wird er alle möglichen Delikatessen mitbringen, und Wein, das tut er jeden Tag. Er wird sie losbinden, er wird ihr höhnisch

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