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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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und mit boshaftem Vergnügen zuschauen, wie sie über das Essen herfällt und gierig ein Glas Wein nach dem anderen in sich hineinstürzt, bis sie betrunken ist und die Besinnung verliert und er mit ihr machen kann, was er will. Marie, flüstere ich entsetzt, kannst du mich hören? Sie schaut mich an, sehr ernst und mit der Zuneigung, nach der ich mich immer gesehnt habe, und sagt: Omi hatte recht, Anne, wer morgens lacht und mittags singt … Ihre Stimme erstirbt, das Bild vor meinen Augen wird blasser und blasser, bis es verschwunden ist, als wäre es nie da gewesen.
    Und ich lag allein in ihrem Zimmer, auf dem hässlichen, lilafarbenen Überwurf, den sie von ihrem Weihnachtsgeld gekauft hatte, und die nassen Jeans klebten an meinen Oberschenkeln. Ich sollte aufstehen, eine trockene Hose anziehen und etwas tun, lesen oder lernen, die Küche aufräumen oder auch das Bad putzen, irgendetwas, nur nicht an die Decke starren wie der letzte Idiot, aber ich rührte mich nicht, ich lag da wie ein Stück Holz. Die Zeit heilt alle Wunder, wenn du sie gut verschnürst.
    Marie hatte oft so auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt, früher, bevor sie sich die Haare abschneiden ließ und alles anders geworden war. Was ist denn los mit dir, warum liegst du stundenlang herum, hatte ich sie einmal gefragt, und sie hatte gesagt, ich halte es nicht mehr aus, irgendwann bringe ich mich um.
    Obwohl sie das schon mehr als einmal gesagt hatte, erschrak ich, doch jede Drohung, die zu oft wiederholt wird, nutzt sich ab, das Messer wird stumpf. Früher hatte ich noch versucht, sie zu trösten, hatte auf sie eingeredet, ihr alles Mögliche versprochen, aber inzwischen hatte ich gelernt, mich gegen ihre seltsamen Ausbrüche zu schützen, deshalb lachte ich nur und sagte verächtlich, um ihr zu zeigen, was ich von ihrer Großmäuligkeit hielt, hör doch auf mit dem Blödsinn, das tust du ja doch nicht.
    Und warum nicht?
    Weil du dich nicht traust, sagte ich, immer nur Sprüche und nichts dahinter.
    Leck mich am Arsch, hatte sie gesagt, sich aufgerichtet, den CD-Player auf ihrem Nachttisch so laut wie möglich gestellt, sich wieder aufs Bett zurückfallen lassen, ihren idiotischen Plüschhasen an sich gedrückt und die Augen geschlossen, und ich hatte die Tür hinter mir zugeknallt und war wütend die Treppe hinuntergerannt, so hatte sie mich schon allzu oft abgefertigt.
    Ich starrte die Decke an, graue Ringe tanzten vor meinen Augen. Ich wollte nicht an Marie denken, aber ich konnte nicht anders, seit sie verschwunden war, musste ich ununterbrochen an sie denken. Sie hätte nicht weggehen dürfen, dachte ich, sie hat das empfindliche Gleichgewicht gestört, das uns, egal ob es uns gefällt oder nicht, am Leben erhält, seit sie weg ist, hängen wir in der Luft und drohen abzustürzen.
    Wir waren Schwestern und voneinander abhängig, das wurde mir auf einmal klar, und mir fiel ein Tag ein, es war mindestens zwei, drei Jahre her, an dem unsere Eltern in der Küche gestritten hatten, sehr laut, sehr böse, während Marie und ich im Wohnzimmer saßen und uns ein altes Micky-Maus-Video anschauten. Ich hielt mir die Ohren zu, konnte aber nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen traten, Streit war mir unerträglich, er machte mich krank.
    Nicht weinen, Anne, sagte Marie zu mir und fuhr mir über den Kopf, nicht weinen. Sie streiten sich, na und, lass sie doch streiten, hör nicht hin, es geht dich nichts an. Stell dir vor, dass sie quaken. Donald und Daisy streiten sich, quak, quak, Donald schlägt mit der Faust auf den Tisch, die Cola-Flasche fällt um, das Cola tropft auf den Boden, quak, quak, Onkel Dagobert kommt herein, eine Schachtel Cornflakes in der Hand, er lässt die Schachtel fallen, die Cornflakes kullern über den Fußboden wie goldene Taler, Onkel Dagobert rutscht auf ein paar aufgeweichten Cola-Cornflakes aus und fällt auf die Nase, quak, quak, und im nächsten Heft kommt die Fortsetzung, quak, Punkt.
    In der Küche war es ruhiger geworden, aber sie stritten noch immer und meine Augen brannten. Reg dich doch nicht auf, sagte Marie, kümmere dich einfach nicht darum, du brauchst dir bloß vorzustellen, dass du nicht ihre Tochter bist, und schon geht es dich nichts an.
    Und wessen Tochter soll ich sein?
    Ganz einfach, sagte Marie, denk dir jemanden aus, ich habe tolle Mütter, sag ich dir. Gestern habe ich zum Beispiel eine in der Straßenbahn gesehen, sie hatte einen quittengelben Pullover an und eine knallrote Hose,

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