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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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geleert, Geld, das wir im Wohnzimmer in einer Blumenvase versteckt hatten, falls etwas passierte und wir dringend Bargeld brauchten. Ausgerechnet unsere Mutter, die es mit Geld immer so genau nahm, brauchte ein paar Tage, um überhaupt daran zu denken. Unser Vater war sichtlich erleichtert, dass sie nicht ganz ohne Geld dastand, doch unsere Mutter sagte bitter, sie hat uns bestohlen, auch das noch. Marie hatte ihren MP3-Player zurückgelassen, ebenso ihre rote, glänzende Jacke und ihr Fahrrad, aber ihr Rucksack fehlte, dazu etwas Unterwäsche, Pullover, T-Shirts, zwei Jeans, aber ganz genau wussten wir auch das nicht.
    Marie rief nicht an, und allmählich wurde uns klar, dass sie es tatsächlich ernst gemeint hatte, und schließlich beschlossen unsere Eltern, die Polizei einzuschalten, auch gegen Maries Willen.
    Und dann ging es erst richtig los mit Fragen, auf die unsere Eltern keine Antwort wussten. Warum kommen Sie jetzt erst zu uns, warum sind Sie nicht gleich gekommen, sie wird in vier Wochen achtzehn, da können wir nicht mehr viel machen. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Was hatte sie an? Wie viel Geld hatte sie? Wie heißen ihre Freunde? Was hat sie den ganzen Tag gemacht, wenn sie nicht in die Schule gegangen ist? Hat sie einen Freund? Hobbys? Hat sie je etwas mit Drogen zu tun gehabt?
    Mit jeder Frage fielen sie mehr in sich zusammen, jedes Wann, Wie, Warum machte sie kleiner, hilfloser, irgendwie schuldig.
    Auch ich wurde befragt, von dieser rundlichen, mütterlich aussehenden Kommissarin mit den grauen Haaren, die gleich beim ersten Mal zu uns gekommen war, aber ich wusste nichts, ich wusste ebenso wenig wie unsere Eltern. Hast du sie nie mit Freunden gesehen, wollte die Frau wissen, hast du sie nie gefragt, wohin sie geht, mit wem sie zusammen ist? Das gibt es doch nicht, dass sie keine Freundin hatte, keinen Freund, keine Clique, jedes Mädchen in diesem Alter hat doch Freundinnen, Freunde, eine Clique. Ich zuckte mit den Schultern, was hätte ich denn sagen sollen, ich hatte ja auch keine Freundinnen, keine Freunde, keine Clique.
    Ich wusste nichts, unsere Eltern wussten nichts und die Polizei fand nicht viel heraus. Marie schien oft mit einer Clique in Pasing rumgehangen zu haben, berichtete die Kommissarin. Diese jungen Leute behaupteten, Marie schon länger nicht mehr gesehen zu haben, und es gab keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Auch ihr Handy ließ sich nicht orten, vermutlich hatte sie es weggeworfen und sich ein anderes zugelegt, ein Kartenhandy vielleicht. Wir suchen weiter, sagte die Kommissarin, aber wenn sie nicht gefunden werden will, haben wir wenig Chancen, sie wird bald achtzehn, da können wir sowieso nicht mehr viel tun, es gibt keinen Hinweis auf ein Verbrechen, und wie gesagt, sie ist fast achtzehn. Siebenundneunzig Prozent aller verschwundenen Jugendlichen tauchen wieder auf, sagte sie, vermutlich um uns Hoffnung zu machen, nur drei Prozent bleiben verschwunden.
    Sie gab sich Mühe, freundlich zu sein, aber ihr Verständnis hatte etwas Gezwungenes, es wirkte auf uns wie ein Vorwurf, wie eine Anschuldigung, man sah die Vorwürfe hinter ihrem mitfühlenden Gesicht, man sah, dass sie uns nicht verstand, unsere Eltern nicht und mich auch nicht. Und wir wussten nicht, was wir sagen sollten, denn wir verstanden uns, ehrlich gesagt, ja selber nicht.
    Ab da war alles anders, es gab nur noch ein Davor und ein Danach. Dabei hatten wir noch nicht einmal einen Zeitpunkt, an dem wir die Veränderung festmachen konnten, es war im Sommer 2005, am 7. Juli hatte sie angerufen, das würden wir nie vergessen, es war der Tag, an dem in London die Terroranschläge verübt worden waren, aber ob wir sie drei oder vier oder auch fünf Tage zuvor zum letzten Mal gesehen hatten und wann sie beschlossen hatte, uns zu verlassen, wussten wir nicht, auch nicht, wann und womit alles angefangen hatte. Unsere Gedanken drehten sich im Kreis, alles blieb im Ungefähren, so wie Maries Gründe im Ungefähren blieben. Wo hätten wir auch Sicherheit herbekommen sollen? Sie hatte uns ja nichts gesagt und wir hatten keine Veränderung bemerkt.
    Auch für mich wurde ab da alles anders. Das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern war nie besonders vertraulich gewesen, vermutlich hatte von Anfang an Omi zwischen uns gestanden, doch nach Maries Verschwinden kam das große Schweigen, das aber nie thematisiert wurde, weder von ihnen noch von mir. Das Schweigen wurde zu unserer Normalität. Ich weiß nicht, wer schuld

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