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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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daran war, sie oder ich, und ich habe keine Ahnung, ob sie es überhaupt merkten, ob sie nicht immer an Marie dachten. Natürlich wurde noch über Alltägliches gesprochen, über Organisatorisches, über das Essen, das Wetter, aber für mich war das alles ein großes Schweigen, hinter dem sich Marie verbarg.
    Wir hörten nichts mehr von ihr, sie war und blieb verschwunden, es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Alle paar Wochen kam jemand von der Polizei zu uns, oft die grauhaarige Kommissarin, um uns mitzuteilen, dass es nichts Neues gab, und um zu fragen, ob Marie sich vielleicht gemeldet hatte. Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen ihren Besuchen länger, die Akte wurde nicht geschlossen, aber für unser Gefühl geschah auch nicht viel. Es sei schon seltsam, dass Marie nirgendwo auftauchte, weder in der Münchner Szene noch anderswo, sagte die Kommissarin, sie hätten auch Interpol eingeschaltet, selbstverständlich hätten sie das getan, außerdem seien alle Grenzübergänge und alle Flughäfen informiert worden, doch auch die Kollegen hätten nichts gefunden. Und irgendwann deutete sie an, unter diesen Umständen sei ein Verbrechen nicht mehr auszuschließen.
    Die Nachforschungen blieben im Ungefähren, so wie Marie im Ungefähren blieb. Marie gehört, auch wenn meine Eltern es bis heute nicht wahrhaben wollen, zu den drei Prozent der verschwundenen Jugendlichen, die nicht mehr auftauchen. Die verschwunden bleiben.

Elf
    Manchmal ist die Erinnerung an einen Gegenstand gebunden und taucht jedes Mal wieder auf, wenn man ihn sieht. Ein Streichholz, das jemand in der Hand hielt, als er einem eine schlechte Nachricht überbrachte, der Fleck auf dem Pullover einer Frau, die kurz darauf bei Rot über die Straße lief und von einem Auto angefahren wurde, die Veilchen im Gras, die man entdeckt hatte, bevor man plötzlich eine tote Eule fand.
    Ich glaube, es ist alles wegen der roten Jacke passiert. Natürlich ist es unsinnig, ein eher belangloses Kleidungsstück, auch wenn es neu und wirklich hübsch war, für irgendetwas verantwortlich machen zu wollen, und das stimmt ja auch nicht, was ich getan habe, habe ich getan, ich meine es eher so, dass es ohne die rote Jacke vermutlich nicht passiert wäre.
    Marie hatte den schwarzen Mantel mitgenommen, der vorher monatelang unbenutzt in ihrem Schrank gehangen hatte, und die rote Jacke am Garderobehaken zurückgelassen, allein, überflüssig, als wäre sie ihr plötzlich zu klein geworden, vielleicht hatte sie auch nur genug von dem Ding gehabt, das konnte man bei ihr nie wissen, sprunghaft, wie sie in allem war, sie konnte in einem Moment lachen, im nächsten toben, sie konnte so tun, als wäre alles in Ordnung, und plötzlich ausflippen, ohne Anlass und ohne dass jemand verstand, was ihr jetzt nicht passte, sie war eben, wie sie war. Trotzdem konnte ich erst gar nicht glauben, dass sie ohne diese Jacke weggegangen sein sollte, und sagte deshalb in den ersten Tagen immer, sie wird wiederkommen, und wenn es nur wegen ihrer Jacke ist, und das glaubte ich auch.
    So wie unsere Mutter in den ersten Tagen ständig wiederholte, der Hunger wird sie nach Hause treiben, ihr werdet schon sehen, in spätestens einer Woche ist sie wieder daheim. Da hatte sie allerdings noch nicht herausgefunden, dass Marie ihr Konto geräumt und das Geld aus der Blumenvase mitgenommen hatte. Unsere Mutter klammerte sich an den Hunger und ich mich an die rote Jacke. Jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause kam, galt mein erster Blick der Garderobe, jeden Tag war ich überzeugt, sie hätte die Jacke inzwischen geholt, schließlich hatte sie einen Hausschlüssel, aber jeden Tag hing die Jacke noch da, und nach einer Woche hörte unsere Mutter auf, vom Hunger zu sprechen, der Marie heimtreiben würde, und ich sagte nichts mehr wegen der Jacke. So war es, wir hatten uns beide geirrt, sie und ich, auch wenn wir das nicht laut aussprachen.
    Dann kam der letzte Schultag vor den Sommerferien, es gab Zeugnisse. Natürlich war mein Zeugnis gut, es war immer gut, ich hatte noch nie ein schlechtes Zeugnis bekommen, doch ich wusste, dass sich niemand besonders dafür interessieren würde, auch vor Maries Verschwinden hatten sie sich nicht für meine Zeugnisse interessiert, sie waren daran gewöhnt, dass sie gut waren, und auch für mich bedeuteten gute Noten nur die Garantie dafür, dass ich in Ruhe gelassen wurde und niemand etwas von mir wollte. Natürlich wusste ich, dass ich nicht nur hinter

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