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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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eine echt scharfe Frau. Ich wette, sie ist zu ihrem Liebhaber gefahren und hat ganz vergessen, dass ich, ihr armes kleines Mädchen, hungrig und frierend zu Hause auf sie gewartet habe.
    Und was bringt es dir, hungrig und frierend auf eine Mutter zu warten, die dich vergisst und zu ihrem Liebhaber fährt?, fragte ich.
    Ich kann weinen, sagte Marie, ich habe einen Grund zum Weinen.
    Und wo bleibe ich in deiner Geschichte, fragte ich, wo bin ich?
    Dich habe ich weggedacht, sagte Marie, ich war ein Einzelkind, und dann habe ich auch die Frau in dem gelben Pullover weggedacht, ich habe die Straßenbahn weggedacht und die Autos und die Häuser und alle Whiskeyflaschen der Welt.
    Und was ist übrig geblieben?
    Ich, hatte Marie gesagt, ich, ich, ich.
    Das war, bevor sie sich die Haare abschneiden und knallrot färben ließ. Bind nur die Stelle gut ab, bis du es gar nicht mehr spürst.
    Da stand ich auf und ging hinunter, kratzte mein letztes Geld zusammen, nahm noch etwas aus der Haushaltskasse und fuhr, weil es immer noch regnete, mit dem Bus nach Pasing zum Friseur. Der Salon war neu und sah bunter und modischer aus als unser alter in Allach, ich war oft genug daran vorbeigegangen, er warb damit, dass man jederzeit ohne Termin kommen könne. Trotzdem musste ich ein bisschen warten, höchstens eine Viertelstunde, sagte man mir. Ich setzte mich an einen Tisch mit Zeitschriften und blätterte darin herum, ohne etwas zu lesen und ohne überhaupt wahrzunehmen, was auf den Fotos zu sehen war, dazu war ich viel zu aufgeregt, zu erschrocken über das, was ich meinen Mut nannte, wenigstens damals tat ich das, heute würde ich sagen, es war eine verrückte Idee.
    Bitte, sagte eine junge, stark geschminkte Frau, die höchstens drei Jahre älter war als ich, vermutlich war sie so alt wie Marie, sie war sehr schmal, trug eine halblange, grüne Leinenhose und ein grünes T-Shirt mit Spaghettiträgern und bauchfrei, sodass man ihr Bauchnabelpiercing sah. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf den sie deutete, mein Gesicht im Spiegel sah blass und starr aus und wurde noch starrer, als sie hinter mich trat, mit beiden Händen meine Haare mehrmals anhob und sie wieder auf die Schultern zurückfallen ließ.
    Du hast schönes Haar, sagte sie, wie möchtest du es denn haben? Ihre Stimme war ein bisschen zu hoch, zu schrill, zu gekünstelt.
    Fünf Zentimeter kurz und knallrot, sagte ich.
    Sie lachte und ihre Stimme klang auf einmal normaler, hast du dir das auch gut überlegt?, fragte sie, ich meine, du wirst hinterher ganz anders aussehen.
    Das ist genau das, was ich will, sagte ich, und sie hielt mir eine Farbtabelle mit vielen roten Quadraten hin. Welche Farbe möchtest du?
    Ich hatte nicht geahnt, dass es so viele verschiedene Rottöne für Haare gab, aber ich wusste noch genau, wie Maries Haare ausgesehen hatten, wenn sie frisch gefärbt vom Friseur zurückgekommen war, ich deutete auf ein Quadrat und sagte, dieses Rot möchte ich haben, genau das.
    Fangen wir mit der Farbe an, sagte die Friseurin, dann kann ich mich zwischendrin noch um meine andere Kundin kümmern. Sie zog dünne, durchsichtige Plastikhandschuhe über ihre Hände mit den smaragdgrün lackierten Fingernägeln und machte sich daran, die Farbe zu mischen, und ich starrte in den Spiegel und nahm Abschied von meinem Gesicht und meinen schulterlangen braunen Haaren, die nicht ganz glatt waren und nicht ganz lockig. So hatte ich immer ausgesehen, seit fünfzehn Jahren war mir dieser Anblick vertraut, bis zum Überdruss, ich hatte nie wirklich gern in den Spiegel geschaut, es war mir nicht wichtig gewesen, wie ich aussah, vielleicht weil es auch für andere nicht wichtig gewesen war, schließlich war nicht ich die Schöne, sondern Marie, schon immer war das so. Sie war die Schöne, ich die Gescheite.
    Doch nun betrachtete ich mich neugierig. Es war die ernsthafte, brave Anne, die mir entgegenblickte, ich fand mich nicht hässlich, so war es nicht, meine Lippen waren ein bisschen zu voll und meine Nase vielleicht zu ausgeprägt, aber meine Augen waren groß und auffallend dunkel, wie Maries Augen, es waren die Augen unseres Vaters, die wir geerbt hatten, und er hatte sie von seiner Mutter, der Bodenmais-Oma, er war der einzige ihrer drei Söhne, der diese Augen geerbt hatte, die beiden anderen waren blauäugig.
    Die Friseurin machte sich an mir zu schaffen, und fast hätte ich alles rückgängig gemacht, als das Blondiermittel auf meiner Kopfhaut anfing zu brennen, aber ich zuckte

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