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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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zu kränken, allerdings nie laut gesagt hatte.
    Schon als kleine Kinder durften wir der Bodenmais-Oma bei den Hühnern helfen, sie setzte uns Küken in die ausgestreckten Hände, damit wir sie vorsichtig mit einem Finger streicheln konnten, sie zeigte uns die kleinen Katzen, die in der Scheune auf die Welt gekommen waren, die neugeborenen Ferkel und einmal einen Igel, den sie über den Winter gebracht hatte. Sie führte uns zu den Kälbchen und zeigte uns, dass sie anfingen, an unseren Fingern zu saugen, wenn wir ihnen die Hand vors Maul hielten. Sie hob uns hoch, damit wir die frisch geschlüpften Vögel in einem Nest sehen konnten, und sie erzählte uns, was unser Vater und seine Brüder alles angestellt hatten, als sie noch klein gewesen waren.
    Ich wunderte mich, wie viele Einzelheiten mir auf einmal zu ihr einfielen, ganz im Gegensatz zum Bodenmais-Opa, mit dem ich keine besonderen Erinnerungen verband. Ich wusste, wie er mit aufgestützten Ellenbogen am Tisch saß, wie er die Gabel oder den Löffel hielt, dass er schlürfte, wenn er Suppe aß, und sich immer laut und gründlich die Füße auf dem Gitter vor der Tür abtrat, bevor er ins Haus kam, und dass er nach Kuhstall, Heu und Kautabak roch. Er war immer da gewesen, das schon, aber mir fiel nichts Besonderes ein, was er getan oder gesagt hätte. Wir haben Pech, hatte Marie einmal gesagt, wirklich schade, dass unser einziger Großvater ein Stoffel ist, und ich fragte mich jetzt, ob die Männer unserer Familie einfach nur wortkarg und verschlossen waren oder ob ihr Gefühlsleben ebenso zurückgeblieben war wie der Verstand von Onkel Hans. War mein Vater so geworden, wie er war, weil er seinen eigenen Vater nie anders erlebt hatte?
    Der Bodenmais-Opa, sehr fremd in einem dunklen Anzug, einem weißen Hemd und mit einer schwarzen Krawatte, bemerkte meine dem Anlass angemessenen schwarzen Stiefeletten gar nicht, als wir Stunden vor der Beerdigung das Wohnzimmer betraten, er bemerkte überhaupt nichts, er schaute niemanden an, er saß wie versteinert am Tisch und starrte vor sich hin, als würde er uns nicht sehen, als hätte er mit seiner Frau auch sein Augenlicht verloren. Das ist der Schock, sagte Tante Lisbeth, sie sind immerhin über sechzig Jahre lang verheiratet gewesen. Sie seufzte und fügte hinzu, er ist in der letzten Zeit sehr alt geworden und oft durcheinander, es ist wirklich ein Kreuz mit ihm, und manchmal weiß ich nicht, ob er überhaupt noch versteht, was man zu ihm sagt.
    Ich fand es peinlich, sie sprach über ihn, als wäre er nicht im Raum, sie machte sich noch nicht einmal die Mühe zu flüstern, als wäre es ihr egal, ob er sie hörte oder nicht. Ich schaute zu Opa hinüber, aber er reagierte nicht auf das, was Tante Lisbeth sagte, er achtete auch nicht auf uns, er starrte stur weiter auf die Tischdecke, sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, er blinzelte noch nicht einmal.
    Tante Lisbeth schob ihm eine Kaffeetasse hin, hier, Vater, trink was, der Arzt hat gesagt, du musst mehr trinken, hörst du? Sie sprach laut und langsam, wie man vielleicht zu einem Kind spricht, und als er keine Anstalten machte zu trinken, nahm sie ihm die rechte Hand vom Schoß und legte seine Finger um die Tasse, hier, Vater, trink. Seine Hand zitterte, als er die Tasse anhob, und etwas Kaffee schwappte auf seine Anzughose. Tante Lisbeth seufzte wieder, sie holte einen feuchten Lappen aus der Küche und machte sich an seiner Hose zu schaffen, und auch das ließ er regungslos über sich ergehen.
    Mein Vater setzte sich auf den freien Stuhl neben ihn, nahm seine Hand und redete leise auf ihn ein, und meine Mutter begleitete Tante Lisbeth in die Küche, um Peter, meinem Cousin, und seiner Frau Lena zu helfen, die belegte Brote für den Leichenschmaus vorbereiteten. Ich folgte ihnen, und als Tante Lisbeth mich sah, holte sie ein Glas mit eingelegten Gurken aus der Speisekammer und forderte mich auf, sie in Scheiben zu schneiden, um die Schinkenbrote zu garnieren, doch ich wollte mir nach der langen Autofahrt erst noch ein bisschen die Beine vertreten, nur ein paar Minuten, ich bin gleich wieder da und helfe, versprochen.
    Mein Weg führte mich zum Hühnerstall, dann zu den Schweinen, und dabei wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich eigentlich auf der Suche nach unserer verlorenen Kindheit war, nach Maries und meiner, und fast wären mir jetzt vor lauter Wehmut und Sentimentalität die Tränen gekommen, auf die ich bei der Nachricht von Omas Tod vergeblich gewartet

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