Wer morgens lacht
gelang mir, mich trotz meiner weichen Knie auf den Beinen zu halten, ich griff nach meiner Tasche und nach Maries Jacke und lief los, ohne mich noch einmal umzudrehen, weder nach den dreien, die immer noch feixend dastanden, noch nach dem anderen, der noch auf dem Boden lag, neben der Stelle mit dem zerdrückten Gras, wo es passiert war.
Um diese Nachtzeit gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr und ich hatte nur noch drei Euro, das reichte nicht für ein Taxi, ich musste also den ganzen langen Weg zu Fuß zurücklegen, trotz meiner Schmerzen, trotz der Übelkeit, die mich nicht losließ, auch nicht, als ich mich ein paarmal übergeben hatte und nur noch bittere Galle aus mir herausbrach. Ich lief weiter, mechanisch, ohne nachzudenken, ich wollte nur in mein Bett und die Decke über mich ziehen, ich wollte sterben.
Als ich endlich zu Hause ankam, schlich ich mich ins Bad und reinigte mich notdürftig, ich wusch das Blut aus meiner Unterhose und schob sie ganz tief unten in den Korb mit der schmutzigen Wäsche, ich wusch auch meine Jeans und hängte sie unten, in meinem Zimmer, über den Stuhl, und während der ganzen Zeit dachte ich an Omi, die einmal gesagt hatte, das Leben einer Frau besteht nur aus Schmerzen, Blut und Tränen. Erst als ich im Bett lag, spürte ich, wie Wut in mir aufstieg, eine heiße, kochende Wut, die mich ganz ausfüllte. Nein, Omi, sagte ich, für mich gilt das nicht, ich will das nicht, auch wenn ich jetzt weiß, was du mit Schmerzen, Blut und Tränen gemeint hast, aber nicht mit mir, nein, ich werde dafür sorgen, Omi, dass mein Leben nicht nur aus Schmerzen, Blut und Tränen besteht.
Ich weiß nicht, ob ich in der kurzen Zeit, die die Nacht noch dauerte, überhaupt geschlafen habe, ich glaube es nicht, denn irgendwann kam Marie und sagte, er gehört mir, er hat immer mir gehört, es geschieht dir ganz recht, dass es dir jetzt so beschissen geht, hörst du, du bist selber schuld.
Und auch gegen sie wehrte ich mich nicht, ebenso wenig, wie ich mich gegen ihn gewehrt hatte. Obwohl ich schon damals wusste, dass es mir nicht recht geschehen war, ich war dumm und naiv gewesen, aber das rechtfertigte noch lange nicht das, was passiert war, was er mir angetan hatte, es rechtfertigte auch nicht das Verhalten der drei anderen. Ich konnte es mir nicht erklären, jeder Ansatz einer Erklärung wurde von einer Welle von Wut und Entsetzen weggespült.
Erst Tage später fiel mir ein, dass es Gefahren gab, an die ich vorher gar nicht gedacht hatte: Ich könnte schwanger sein, ich könnte mich mit Aids infiziert haben, vielleicht auch beides.
Ein paar Tage lang quälte ich mich mit meinen Ängsten herum, ein paar Tage lang dachte ich, wenn das passiert ist, werde ich sterben, muss ich sterben. Und dann beschloss ich, zu Doktor Kugler zu gehen. Ärzte unterliegen der Schweigepflicht, dachte ich, vermutlich gilt das auch bei Minderjährigen. Natürlich wusste ich noch, wie wütend ich vor zwei Jahren auf ihn gewesen war, an Maries sechzehntem Geburtstag, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr, er war der einzige Arzt, den ich kannte, er war meine Hoffnung, es gab sonst keinen Menschen, an den ich mich hätte wenden können.
Dreizehn
Nichts weist einen so unübersehbar darauf hin, dass jemand fehlt, egal ob vorübergehend oder für immer, wie ein leerer Stuhl, ein leeres Bett oder ein leerer Platz auf der Rückbank eines Autos. Dieser Platz, auf dem immer zwei Personen gesessen haben, fühlt sich ganz anders an, wenn auf einmal nur eine darauf sitzt. So ging es mir, nun eine Art Einzelkind, als wir nach Bodenmais fuhren, ich wusste noch nicht, was ich mit diesem Platz anfangen sollte, wie so viel Raum von einem einzigen Menschen ausgefüllt werden konnte.
Die Bodenmais-Oma war gestorben, drei Wochen nach einem Schlaganfall. Man muss mit dem Schlimmsten rechnen, hatte Onkel Karl gesagt, als er uns anrief, um Bescheid zu sagen, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war, bewusstlos und in schlechtem Zustand, ich denke, du solltest gleich herkommen, Josef, der Arzt hat gesagt, man muss mit dem Schlimmsten rechnen. Mein Vater hatte aufgelegt, und ich hatte gedacht, wie ähnlich er der Bodenmais-Oma auf einmal sieht. Was soll ich machen?, hatte er gesagt, hilflos wie ein kleines Kind. Aber da hatte meine Mutter schon den karierten Koffer geholt und seinen Schlafanzug, etwas Unterwäsche, Waschzeug und zwei Hemden zum Wechseln eingepackt. Er fuhr sofort los, und als er ein paar Tage später
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