Wer morgens lacht
zurückkam, sagte er bedrückt und verwirrt, sie ist nicht ansprechbar, sie liegt da wie tot mit all den Schläuchen. Ihr Zustand ist jetzt stabil, sagen sie im Krankenhaus, aber niemand kann wissen, ob sie je wieder so sein wird, wie sie war, ob sie je wieder reden können wird.
Und nun war es also doch passiert, das Schlimmste, mit dem man hatte rechnen müssen.
Wir saßen im Auto, nur wir drei, meine Mutter, mein Vater und ich. Da war Marie schon fast ein Jahr weg, und aus meinen Haaren, die ich noch immer so kurz trug wie sie, war die rote Farbe längst herausgewachsen. Ich dachte nicht mehr oft an Marco und die anderen, und wenn ich sie in Pasing zufällig einmal sah, wechselte ich auf die andere Straßenseite oder tat, als würde ich sie nicht erkennen, als wäre das alles nie passiert. Rambo war nicht mehr bei ihnen, vielleicht war er inzwischen gestorben, aber ich erkundigte mich nicht, wo er abgeblieben war, ich vermied jeden Blickkontakt mit ihnen. Das war allerdings nicht schwer, auch sie taten, als würden sie mich nicht kennen, als hätte es diese zwei Wochen im letzten Sommer nie gegeben. Für mich war das Schlimmste vorbei, ich war nicht schwanger geworden, ich hatte mich nicht mit Aids infiziert und Doktor Kugler hatte mich nicht an meine Eltern verraten, auf die ärztliche Schweigepflicht konnte man sich zum Glück verlassen.
Ich hatte die Geschichte abgehakt, so gut es eben ging, und versuchte, sie zu vergessen, aus, vorbei, basta, nie wieder würde mir so etwas passieren, da war ich ganz sicher, ich hatte Glück gehabt, würde mein Glück aber nicht noch einmal auf die Probe stellen. An Marie dachte ich allerdings sehr oft, auch wenn ich allen Gesprächen über sie auswich. Wenn meine Mutter oder mein Vater sich laut fragten, was Marie jetzt wohl macht, verließ ich das Zimmer, und wenn einer sagte, dies oder jenes sollten wir nicht tun, das würde Marie nicht mögen, sagte ich, ich muss noch lernen, und ging in mein Zimmer. Marie, immer nur Marie, es hörte einfach nicht auf. Doch für mich war unsere Mutter in Gedanken längst zu meiner Mutter geworden und unser Vater zu meinem Vater, auch wenn sie das nicht wussten und ich es nicht laut zu sagen wagte.
Wir waren unterwegs zum Bayrischen Wald, zur Beerdigung. Meine Mutter fuhr, mein Vater saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, mit versteinertem Gesicht, und sagte kein Wort. Es war unsere erste längere Autofahrt seit Maries Verschwinden, unsere erste gemeinsame Fahrt, und ich dachte daran, wie es auf unseren früheren Fahrten gewesen war. Wenn Marie gute Laune hatte, war es wirklich lustig gewesen, wir hatten Kinderspiele gespielt, ich sehe was, was du nicht siehst, oder wir hatten versucht, die Namen der Städte auf den Nummernschildern der Autos zu erraten, da war ich immer besser gewesen als sie, oder wir dachten uns, je nach der Buchstabenkombination, mögliche Vor- und Nachnamen der Besitzer aus, und da war Marie besser gewesen als ich. Aber wenn sie schlechte Laune hatte, maulte sie während der ganzen Fahrt, mach dich nicht so dick, zieh deine Beine ein, hör endlich auf, mich mit dem Ellenbogen zu stoßen, schnauf nicht so laut, hör auf zu schmatzen, guck mich nicht so an, und dann war ich froh, wenn wir endlich in Bodenmais ankamen.
Lisbeth hätte sie nicht zu Hause behalten können, hörte ich meine Mutter plötzlich sagen, und dann fügte sie hinzu, es war eine Erlösung, und ihr Ton war so, dass man nicht wissen konnte, ob sie meinte, es war eine Erlösung für Tante Lisbeth oder eine Erlösung für die Bodenmais-Oma. Mein Vater gab ihr keine Antwort, ich auch nicht, und weil wir beide nichts sagten, wurde sie wieder still. Auch damals, als Omi gestorben war, hatte sie gesagt, es war eine Erlösung, und auch damals hatte ich sie nicht gefragt, wer ihrer Meinung nach erlöst worden war, sie selbst, wir alle oder Omi, ihre Mutter.
Jetzt, auf der Fahrt, konnte ich nur denken, Omi war siebenundsechzig, als sie starb, die Bodenmais-Oma ist siebenundachtzig geworden, wenn Omi noch am Leben wäre, wäre sie noch immer nicht siebenundachtzig. Alles hatte mit Omis Tod angefangen, in den Jahren davor hatten wir, so dachte ich, ein friedliches Leben geführt, da war nichts Besonderes passiert, zumindest konnte ich mich an nichts Besonderes erinnern. Bis zu Omis Tod war unser Leben ruhig verlaufen, das Gartenjahr teilte sich in Frühling, Sommer, Herbst und Winter und bestimmte dadurch unseren Speiseplan. Und unser Jahr, Maries und
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