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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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und ich anfing zu weinen. Da ist der schwarze Mann drin, sagte er noch einmal mit dieser tiefen, unheimlichen Stimme, und wenn du nicht brav bist, kommt er heraus und holt dich.
    Marie stand daneben und kicherte und sagte, ja, er kommt heraus und holt dich und frisst dich zum Frühstück, kleine Mädchen schmecken ihm nämlich besonders gut, viel besser als Cornflakes, und dann lachten sie beide ganz laut.
    Ich riss mich los, die Bäume über mir rauschten, und als ich den Kopf hob, bewegten sie sich im Kreis, und der Wind blies dunkle, drohende Wolken über den Himmel und stülpte sie über die Baumwipfel, die sich unter der Last immer tiefer über die Lichtung senkten. Sie fallen um, die Bäume fallen um, schrie ich entsetzt und schlug die Hände vors Gesicht.
    Bäume fallen nicht einfach um, sagte Onkel Hans und seine Stimme klang jetzt wieder normal, und Marie sagte verächtlich, stell dich nicht so an, du Heulsuse, schau doch nur, wie dick die Stämme sind, die wirft so leicht nichts um, nicht so ein bisschen Wind.
    Ich nahm vorsichtig die Hände vom Gesicht. Marie stand da, an den dicken Bauch der Buche gelehnt, und betrachtete mich von oben herab, und neben ihr stand Onkel Hans, eine Hand auf ihrer Schulter, und beide lachten wie über einen Witz, den ich nicht verstand.
    Ich drehte ihnen den Rücken zu und betrachtete die Baumstämme, die von außen wirklich gesund und kräftig aussahen, mit einer glatten Rinde, die alten Wunden und Astlöcher waren nur noch wulstig verheilte Narben. Aber wer konnte schon wissen, was sich hinter dieser glatten Rinde verbarg? Käfer, Würmer und Maden konnten die Stämme von innen ausgehöhlt haben, mürbe und morsch konnten die Bäume innerlich geworden sein, und auf einmal wurden die Stämme vor meinen Augen durchsichtig, ich sah eklige Insekten in ihrem Rindengefängnis herumwimmeln und nach einer Öffnung suchen, um hervorzubrechen und über mich herzufallen, ich meinte das Kribbeln schon auf der Haut zu spüren, fühlte, wie sie an meinen Armen und Beinen nach oben krochen. Ich fing an zu schreien und rannte den Hang hinunter und hörte erst auf zu schreien, als ich von Weitem den Hof und die Streuwiesen mit den Apfelbäumen erkannte.
    Oma schälte Kartoffeln, als ich weinend in die Küche stürzte, sie ließ das Messer auf den Tisch fallen und breitete die Arme aus, ich drückte mich so fest an ihren dicken, weichen Bauch, dass ich fast keine Luft mehr bekam, und sie streichelte mir über die Haare und fragte, was passiert sei, und als sie merkte, dass ich kein Wort herausbrachte, nahm sie mich einfach auf den Schoß und wiegte mich wie ein kleines Kind, bis ich mich langsam beruhigte. Ich saß am Tisch und trank heißen Kakao mit Honig, als Onkel Hans und Marie mit dem vollen Leiterwagen zurückkamen.
    Was war denn los, fragte Oma, das Kind ist ja ganz durcheinander.
    Ach, die ist doch bloß hysterisch, sagte Marie verächtlich, bekomme ich auch einen Kakao?
    Abends konnte ich lange nicht einschlafen, ich musste immer an den schwarzen Mann denken, ich hörte, wie er ans Fenster klopfte und leise meinen Namen rief, he, Anne, ich bin gekommen, um dich zu holen, flüsterte er in die Dunkelheit, los, komm endlich. Ich hörte ihn auch noch, wenn ich mir die Ohren zuhielt, und zitterte vor Angst, wagte aber nicht, Marie zu wecken, die neben mir in dem großen Bett lag und schlief. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, vorsichtig stieg ich über sie hinweg und schlich zum Schlafzimmer unserer Großeltern, die ebenfalls fest schliefen, Oma wachte noch nicht einmal auf, als ich hinter ihr unter die Decke kroch und mich erleichtert und glücklich an ihren warmen Rücken schmiegte. Bei ihr war ich in Sicherheit, sie war stark, gegen sie konnte der schwarze Mann nichts ausrichten, er sollte nur kommen, da könnte er was erleben, sie würde ihm den Besen auf den Kopf hauen oder das Holzbrett, das sie immer zum Gemüseschneiden benutzte. Anders als Omi, die nach Kampfer und Franzbranntwein roch, roch die Bodenmais-Oma nach Kernseife und Zwiebeln und Kuhstall und sie war dick und weich und warm, ich schob den Arm von hinten um ihren dicken Bauch, drückte die Nase in ihre Achselhöhle und sog tief ihren Geruch ein, bis ich wieder ganz ruhig wurde.
    Am nächsten Morgen wunderte sie sich zwar, dass ich in ihrem Bett lag, aber sie stellte keine Fragen, auch nicht, als ich abends wieder bei ihr schlafen wollte. Während jener Ferien lag ich Nacht für Nacht bei ihr im Bett, gegen sie

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