Wer morgens lacht
meines, teilte sich in Schule und Ferien, in Wochentage und schulfreie Wochenenden und natürlich Zeugnisse vor Fasching und vor den großen Ferien, Omis Jahr wurde durch die kirchlichen Feiertage bestimmt, durch die Zeiten, in denen besondere Gebete gesprochen wurden, besondere Andachten stattfanden. Alles war ruhig und gleichmäßig verlaufen, langweilig, hatte Marie immer gesagt, zum Sterben langweilig.
Doch nach Omis Tod war fast jedes Jahr etwas Schlimmes passiert, 2001 bekam Marie Meningitis, 2002 wurde mein Vater, der damals noch unser Vater gewesen war, arbeitslos, 2003 unternahm Marie einen Selbstmordversuch, der sich zwar als nicht ernst gemeint herausstellte, aber laut Doktor Kugler als Hilferuf gewertet werden musste, keine zwei Jahre danach verschwand sie, bald darauf passierte die Geschichte mit Marco, und nun, wieder ein Jahr später, stand uns die Beerdigung in Bodenmais bevor.
Es war, als hätte mit Omis Tod unser Leben seine feste Form verloren, als würde es nach allen Seiten wuchern wie eine bösartige Geschwulst, als wäre die Zukunft, die vorher so offen vor uns zu liegen schien, von giftigen Nebelschwaden verdeckt, und ich fragte mich, ob das nun so weitergehen würde, mein ganzes Leben lang, und hatte Angst vor dem, was noch passieren könnte. Vielleicht war es nicht direkt Angst, was ich empfand, aber ich fühlte mich verunsichert, so wie ich mich durch Maries Abwesenheit verunsichert fühlte, die Welt um mich schien in unzusammenhängende Einzelteile zu zerfallen, in Puzzlestücke, die nicht mehr richtig zusammenpassten, weil jemand die Rundungen kantig geschnitten hatte.
Plötzlich tat es mir leid, dass ich mich geweigert hatte, allein nach Bodenmais zu fahren, jetzt war es zu spät, die Oma war tot. All die Jahre hatten wir, Marie und ich, mindestens zwei-, dreimal im Jahr vierzehn Tage Ferien in Bodenmais verbracht, manchmal auch drei Wochen. Das war, aufs ganze Jahr gesehen, natürlich nicht sehr viel, war aber durch die Regelmäßigkeit, mit der wir hinfuhren, zu einem wichtigen Teil unseres Lebens geworden, wie mir nun erst, auf der Fahrt zur Beerdigung, richtig klar wurde. Wir waren immer gern hingefahren, Bodenmais bedeutete uns mehr als eine willkommene Abwechslung, und das lag vor allem an ihr, an der Bodenmais-Oma. Sie, die Mutter unseres Vaters, war die für uns zuständige Person gewesen, obwohl auch die anderen dazugehörten, der Opa, Onkel Karl und Tante Lisbeth und ihr Sohn Peter, der allerdings keine besondere Rolle gespielt hatte, er war wesentlich älter als wir und selten zu Hause, und natürlich Onkel Hans, der jüngere Bruder Onkel Karls und unseres Vater, der ein bisschen zurückgeblieben war, aber wirklich verantwortlich für uns war nur sie, die Oma. Bedeutete das, dass ich jetzt nicht mehr nach Bodenmais fahren konnte? Hatte ich mit ihrem Tod nicht nur meine Oma verloren, sondern auch so etwas wie meine zweite Heimat? Bestand mein Leben nur aus Verlusten? Gehörten Verluste vielleicht zum Leben dazu und jeder, also auch ich, hatte sich damit abzufinden?
Ich lehnte mich in die Ecke, zog meine Füße, die diesmal in schwarzen Stiefeletten steckten, wie es sich für eine Beerdigung gehörte, auf die Bank, legte die Arme um die Knie und dachte, während draußen die Landschaft an mir vorbeiflog, an die Bodenmais-Oma, die ich nie wiedersehen würde. Und ich muss zugeben, dass sich eine gehörige Portion Selbstmitleid in meine Trauer mischte.
Dabei hatten wir, Marie und ich, uns wirklich auf Bodenmais gefreut. Ich hatte die Bodenmais-Oma immer sehr gern gehabt, obwohl ich mich nicht an viele besonders innige oder zärtliche Situationen erinnerte, auch nicht an lange Gespräche, sie war keine Frau vieler Worte, sie hatte mir manchmal über die Haare gestreichelt, sie hatte mich manchmal an sich gedrückt, sie hatte mir oft eine Süßigkeit zugesteckt und mir immer wieder etwas Neues zum Anziehen gekauft, und einmal hatte sie mir ein Kaleidoskop geschenkt, das ihr beim Aufräumen in die Hände gefallen war, aber sie hatte ihre Zuneigung hauptsächlich durch Essen gezeigt. Sie kochte, wenn wir da waren, nicht nur Maries Lieblingsgerichte, sondern auch meine, und gerührt und ein wenig sehnsüchtig dachte ich an die Erdbeertörtchen, den Pudding mit Sahnetupfern, die gebackenen Knödel, die Zuckererbsen, an das Apfelmus mit Walnüssen, an die Weihnachtsplätzchen, die bei ihr immer viel besser geschmeckt hatten als Omis Plätzchen bei uns zu Hause, was ich, um Omi nicht
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